Wirtschaftsweise fordern neue Politik
8. November 2017In Deutschland reißen die guten Konjunktur-Nachrichten nicht ab. Die Wirtschaft befinde sich in einem kräftigen Aufschwung, so lautet das Urteil des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - oder kürzer: der Wirtschaftsweisen. In ihrem 54. Jahresgutachten gehen die fünf Professoren um ihren Vorsitzenden Christoph Schmidt davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um zwei Prozent wachsen wird. Für das kommende Jahr wird ein Plus von 2,2 Prozent vorausgesagt.
Es ist vor allem die Binnenkonjunktur, die das Wachstum treibt. Beschäftigung und Einkommen seien bereits seit geraumer Zeit stabil, jetzt würden auch die Unternehmen wieder mehr investieren, stellen die Wirtschaftsweisen fest. Das ist auch dringend nötig, denn die Produktion läuft bereits heiß. Es drohe eine Überauslastung, warnt der Sachverständigen-Vorsitzende Schmidt. Erschwerend hinzu komme der Fachkräfte-Engpass, der bereits in einigen Bereichen der Wirtschaft festzustellen ist.
Zuwanderungsgesetz gefordert
Einen flächendeckenden Fachkräftemangel können die Wirtschaftswissenschaftler derzeit nicht ausmachen. Noch nicht, möchte man sagen. Denn die Wissenschaftler sehen sehr wohl, dass es aus demografischen Gründen immer weniger Erwerbsfähige in Deutschland gibt. Sie empfehlen daher dringend ein Zuwanderungsgesetz.
Um langfristig genauso viele Erwerbsfähige zur Verfügung zu haben wie heute, müssten dauerhaft jährlich 400.000 Personen mehr nach Deutschland einwandern als auswandern. Anstelle eines allgemeinen Punktesystems nach kanadischem Vorbild favorisieren die Wissenschaftler eine gesteuerte Zuwanderung, die sich nach dem Angebot an Arbeitsplätzen richten müsse.
Neben Akademikern müssten auch beruflich qualifizierte Fachkräfte einwandern können. "Statt wie bisher Fachkräften nur dann Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu gewähren, wenn sie einen Arbeitsplatz in einem ausgewiesenen Mangelberuf vorweisen können, könnte bei entsprechendem Qualifikations- und Sprachnachweis eine zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erteilt werden", heißt es im Gutachten.
Arbeitsanreize schaffen
Neben der Zuwanderung wird aber auch empfohlen, das bestehende Arbeitskräftepotenzial besser als bislang auszuschöpfen. Im Fokus stehen ältere Menschen und Frauen. Deren Erwerbstätigkeit könnte durch eine verbesserte Kinderbetreuung oder auch durch eine Umgestaltung der Beiträge zur Sozialversicherung gesteigert werden. Ein Arbeitsanreiz könnte beispielsweise der Wegfall der beitragsfreien Mitversicherung von Ehegatten in der Gesetzlichen Krankenversicherung sein, heißt es im Gutachten.
Doch das ist nicht der einzige Hinweis, den der Sachverständigenrat der zukünftigen Bundesregierung mit auf den Weg gibt. Am Vormittag übergab der Vorsitzende das Gutachten in Berlin an Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Für eine zukunftsorientiere Wirtschaftspolitik" ist das 437 Seiten starke Werk überschrieben. Die deutsche Wirtschaft sei gewappnet, die Herausforderungen der Zukunft anzugehen, meint Schmidt und zieht daraus eine klare Schlussfolgerung: "Das gibt der Bundesregierung in der nächsten Legislaturperiode die Chance, eine Balance zwischen Kontinuität und Neujustierung der Wirtschaftspolitik zu finden."
Weniger umverteilen
Ein klarer Hinweis darauf, dass die Wirtschaftspolitik der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD in den Augen des Sachverständigenrats so nicht weiterlaufen soll. Die Herausforderungen der Zukunft, die sich aus Globalisierung, demografischem Wandel und Digitalisierung ergeben, sollten im Mittelpunkt stehen "und nicht wie zuletzt der Verteilungsdiskurs". Gewarnt wird unter anderem vor einer Ausweitung der "Mütterrente". Arbeitnehmer mit einem mittleren Einkommen müssten steuerlich entlastet werden.
Mahnungen, die die CDU-Politikerin Merkel sehr wohl zu deuten weiß. "Gute Ratschläge und Hinweise" könnten die zukünftigen Koalitionäre zurzeit "besonders gut gebrauchen", so die Kanzlerin, die derzeit Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen führt. Doch Merkel weiß auch um die Kluft zwischen politischer Theorie und Praxis. "Politisch ist das nicht ganz so einfach wie das wissenschaftlich einleuchtend ist, denn gerade in guten Zeiten ist der Wunsch nach Verteilung auch ein sehr dominanter", erklärte sie dem Sachverständigenrat. Im Wahlkampf habe sich gezeigt, dass die Bürger "aus ihrer sozialen Perspektive heraus Erwartungen an den Staat haben". Hier die richtige Balance zu finden, sei die Aufgabe der Politiker.
Steuerschätzung läuft
Eine Balance, die noch in dieser Woche mit konkreten Zahlen unterfüttert werden wird. Seit Dienstag tagen die Steuerschätzer in Braunschweig, am Donnerstag (09.11.2017) werden sie nach Berlin übermitteln, über welche Finanzspielräume die künftige Bundesregierung verfügen kann. Der Sachverständigenrat hat sich im Vorfeld bereits eine Meinung gebildet. "Die Spielräume sind nicht so groß, wie manche Vorabmeldungen angedeutet haben. Wir sind sehr vorsichtig und zurückhaltend", so Christoph Schmidt.
Bund, Länder und Gemeinden dürften im laufenden Jahr mit etwas mehr als 31 Milliarden Euro zwar den höchsten Überschuss seit der Wiedervereinigung erzielen. Da davon aber nur ein Teil auf den Bund entfällt, sind die tatsächlichen Spielräume für die Politiker wesentlich geringer. Zumal die gute Finanzlage nicht von Dauer sein dürfte, da vor allem steigende Zinsen die öffentlichen Haushalte absehbar stärker belasten könnten.