Augen zu und durch
26. Mai 2014Am Tag nach der Wahl gehen die französischen Zeitungen mit dramatischen Schlagzeilen auf Leserfang: "Erdbeben" titelt der konservative "Figaro" neben einer Großaufnahme von FN-Parteichefin Marine Le Pen. Die linke "Libération" sieht es noch düsterer: "Ganz Frankreich Front National" steht in dicken Lettern über einer Marine Le Pen in Siegerpose. Frankreich, so lautet bereits am Wahlabend die dominierende Einschätzung von Politikern und Journalisten, wurde von einem politischen Erdbeben erschüttert. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes hat eine rechtspopulistische Partei bei einer landesweiten Wahl die meisten Stimmen errungen. Mit 24 Abgeordneten wird der FN in Zukunft in Brüssel und Straßburg vertreten sein, es folgen die Konservativen mit 20 Sitzen vor den weit abgeschlagenen Sozialisten mit lediglich 13 Mandaten.
Wahlkampf gemacht hat der bereits bei den Kommunalwahlen Ende März erfolgreiche FN vor allem mit einer Negativkampagne. Austritt aus Euro und Nato, Schluss mit den offenen Schengen-Grenzen und die klare Absage an ein Freihandelsabkommen mit den USA: Der Front National hat im Wahlkampf gezielt mit den Ängsten der Bürgern gespielt. "Franzosen haben große Angst vor der Globalisierung. Es gibt eine protektionistische Versuchung in der Wählerschaft und das ist genau das, was der Front National anbietet. Europa ist eigentlich nur ein Statthalter für alle anderen Ängste, die die Franzosen haben können", analysiert der Politikwissenschaftler Emiliano Grossman von der Pariser Kaderschmiede Sciences Po.
Die Folgen für die traditionellen Parteien sind alarmierend. Die Sozialistische Partei von Staatspräsident François Hollande, der noch vor zwei Jahren mit mehr als 50 Prozent die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, ist auf 14 Prozent abgestürzt. Lediglich ein paar Prozentpunkte Abstand trennen die traditionsreiche Partei noch von den Zentristen und Grünen. "Das war ein vernichtendes Votum gegen den Präsidenten", erklärt Grosman das Ergebnis vor allem vor dem Hintergrund hausgemachter Probleme in Frankreich, das unter hoher Arbeitslosigkeit leidet.
Vom Zwei- zum Dreiparteiensystem
Und doch, es ist völlig offen, ob dem von Marine Le Pen so angekündigten "ersten Schritt auf dem langen Weg zur Macht" noch weitere erfolgreiche Schritte folgen werden. Für den Moment allerdings hat sich der FN in der französischen Parteienlandschaft etabliert. Klar ist: Die meisten französischen Parteien werden sich nach dem Debakel neu sortieren müssen. Dass sich Ex-Präsident Nicolas Sarkozy wenige Tage vor der Wahl sehr kritisch zum Schengen-Abkommen geäußert hat, könnte ein Beleg dafür sein, wie der FN den politischen Diskurs im Land verändert. Vor allem bei den Konservativen, wo die Grabenkämpfe zwischen den Flügeln schon offen ausgebrochen sind. Den in Europafragen traditionell gespaltenen Sozialisten könnte ebenfalls eine Zerreisprobe bevorstehen.
Marine Le Pen hat es genau auf diese Schwäche ihrer Gegner abgesehen: "Marine Le Pen ist sehr darauf erpicht, die Partei als regierungsfähig darzustellen. Sie sieht sich selber eher als eine neue konservative Alternative zu den Bürgerlichen als eine radikale rechte Partei. Was natürlich sehr kompliziert ist, da es in der Partei ganz klar rechtsradikale Persönlichkeiten gibt, die man derzeit mehr oder weniger unter Kontrolle hat", sagt der Politikwissenschaftler Grossman.
Keine tragende Rolle im Europaparlament
Ihr Sieg auf dem Papier allerdings sieht beeindruckender aus als er womöglich war. Während Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren noch mehr als sechs Millionen Franzosen hinter sich versammeln konnte, wählten bei den Europawahlen lediglich 4,5 Millionen Wähler Front National. Die Partei hat also extrem stark von der niedrigen Wahlbeteiligung profitiert. Auch eine andere Herausforderung dürfte den FN vor ernste Schwierigkeiten stellen. Der Front National verfügt weder über qualifiziertes Führungspersonal in ausreichender Zahl noch über eine eigene Kaderschmiede.
Mit dem greisen Parteigründer Jean-Marie Le Pen, seiner Tochter Marine und ihrem Lebensgefährten Louis Aliot ziehen allein drei Mitglieder des Le-Pen-Clans ins Parlament. Und dort haben sie bislang vor allem durch Abwesenheit geglänzt. Emiliano Grossman: "Das wird wohl auch in Zukunft so sein, weil die Partei sehr schnell merken wird, dass sich im Europaparlament trotz ihres phänomenalen Erfolges nicht viel ändern wird." Noch nicht einmal die Gründung einer eigenen Fraktion ist in trockenen Tüchern. Die 25 benötigten Abgeordneten wird Le Pen zwar zusammenkratzen können, aber ob sie auch die vorgeschriebenen Mitglieder aus sechs weiteren EU-Staaten in die Fraktion locken kann, ist völlig offen.
Präsident und Premierminister wollen Kurs halten
Sogar für die französische Regierungspolitik dürfte sich vorerst wenig ändern, wenn nach der Aufregung des Wahltages erst einmal wieder ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Seinen Premierminister hat der Präsident bereits vor wenigen Wochen ausgetauscht und auch sonst bleiben ihm vor dem Hintergrund einer hohen Staatsverschuldung und europäischer Verpflichtungen wenige Möglichkeiten für einen Kurswechsel. "Mit 'Viel Lärm um nichts‘ beschreibt man wohl am besten, was passieren wird", so der Politikwissenschaftler Grossman. Die Regierung werde, so wie es Premierminister Manuel Valls schon am Tag nach der Wahl verkündet hat, an ihrem Reformkurs festhalten und hoffen, dass sich die Wirtschaftsdaten bald bessern - eine andere Wahl habe sie auch nicht.
Langfristig neu sortieren wird sich womöglich nicht nur die Politik in Frankreich, sondern auch das Ausland. Vor allem das deutsch-französische Tandem dürfte unter dem Ergebnis leiden. Mit einer auf 14 Prozent abgesackten Regierungspartei wird die ohnehin große Unwucht in den Beziehungen noch größer werden. "Frankreich ist schon heute in einer sehr schwachen Position in Europa. Das Abschneiden wird Angela Merkel möglicherweise dazu bringen, sich auf der Suche nach Bündnispartnern auch anderweitig umzusehen. Zumal es in Europafragen schon lange keine klaren Vorschläge von Frankreich mehr gegeben hat."