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Aus für das Tacheles

Susanne Lenz-Gleißner5. September 2012

Touristen aus der ganzen Welt strömten in das Kunsthaus Tacheles in Berlin. Jetzt wurde die Kaufhausruine geräumt - das Ende eines einmaligen Ortes der freien Kunst.

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Plakat mit Aufschrift "Where shall we go now?" an der Fassade des Kunsthaus Tacheles in Berlin (Foto: Susanne Lenz-Gleißner)
Bild: Susanne Lenz-Gleißner

Es ist noch sehr früh an diesem Dienstagmorgen. Vor dem Kunsthaus Tacheles in der Oranienburger Straße, mitten in Berlin, hat sich eine kleine Gruppe bunt gekleideter Leute zusammengefunden: etwa 70 Künstler, Lebenskünstler, Sympathisanten. Kurz darauf übergeben einige Künstler dem Gerichtsvollzieher die Schlüssel. Er versiegelt die Räume des Kunsthauses - und besiegelt damit das Ende einer Institution an diesem 4. September 2012.

Die Künstlerin Gina Yadegarie arbeitete im vergangenen Jahr im Tacheles. "Das Tacheles ist wichtig für Berlin", sagt sie traurig. "Es ist ein Denkmal für freie Kultur." Sie stammt aus Süddeutschland und kann nicht verstehen, dass manche Berliner im Tacheles nur eine heruntergekommene Touristenfalle sehen. Die vielen Streitereien der Künstler untereinander in den vergangenen Jahren hält sie für unvermeidbar. "Hier sind Menschen, hier ist Leben", sagt sie. Da gehöre Zoff nun mal dazu.

Ein Polizist steht am Dienstag (04.09.2012) in Berlin vor dem Kunsthaus Tacheles (Foto: dpa)
Friedliche Räumung unter BeobachtungBild: picture-alliance/dpa

Vom Ort der Geschichte zur Insolvenzmasse

1990, in der wilden Zeit des Umbruchs nach dem Mauerfall, hatten Künstler die Kaufhausruine besetzt, um sie vor dem Abriss zu bewahren. Das Tacheles, 1909 erbaut, war zuerst Teil eines Kaufhauskomplexes im ehemaligen jüdischen Viertel Berlins. Später wurde es von den Nazis genutzt, dann im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt. Nach dem Mauerfall entstand hier ein künstlerischer Freiraum, der inzwischen Insolvenzmasse ist und zwangsversteigert werden soll. Jahrelang hatten die Künstler dagegen angekämpft: mit dem Eigentümer, der HSH Nordbank verhandelt, an den Berliner Bürgermeister Wowereit appelliert und mehr als 200.000 Unterschriften gesammelt - vergeblich. "Doch es gibt eine Gewissheit", sagt der Illustrator Roman Kroke, "dass etwas bleibt, was man nicht wegnehmen kann, was weiterlebt."

Klavierperformance vor dem Berliner Tacheles (Foto: Susanne Lenz-Gleißner)
Abgesang auf eine KultstätteBild: Susanne Lenz-Gleißner

Stätte alternativer Kultur

Brüchige Klänge wehen durch die Oranienburger Straße. Zwei Künstler, selbsternannte Wächter des Tacheles, spielen auf einem Flügel am Straßenrand - ein Abgesang auf eine Ära der freien Kunst. "Als die Gerichtsentscheidung Anfang Juni fiel, haben viele Künstler aufgeschrien, manche sogar geweint", erzählt die junge Französin Marie Gutbub. Sie hatte vor drei Jahren das Tacheles als Touristin entdeckt und kehrte hierher zurück, um das alternative Kunsthaus als Übersetzerin zu unterstützen. "Das Tacheles ist eine der weltberühmten Stätten der alternativen Kultur", sagt sie. 400.000 Touristen seien im vergangenen Jahr ins Tacheles geströmt - aus den USA und Südamerika, aus Europa und Asien - um sich Ausstellungen anzusehen oder Theatervorführungen.

Künstlerprotest vor dem Berliner Kunsthaus Tacheles (Foto: Susanne Lenz-Gleißner)
Buntes Aufbäumen vor dem TachelesBild: Susanne Lenz-Gleißner

"In art we trust" skandiert die Künstlerin Adler A.F. und bringt so die Philosophie des Tacheles auf den Punkt. Das Tachales ist seit vielen Jahren eine internationale Kultstätte. Hier wurde freie Kunst ohne Subventionen zelebriert, das Experiment inmitten des Verfalls kultiviert. Hier konnten Besucher den Künstlern in ihren Ateliers beim Arbeiten zusehen und spontan mit ihnen ins Gespräch kommen - für viele eine ganz neue Erfahrung. Rebecca Roman aus New York kam immer wieder hierher. Heute huldigt sie den "Spirit" des Tacheles mit einem indianischen Ritual: Weißer Nebel, der aus ihrem Holzbündel aufsteigt, soll diesen Ort der Kreativität schützen und ehren, erklärt sie. Liam Melaluka aus Melbourne vergleicht das Kunsthaus mit einer modernen Höhle, in der viele ihre Spuren hinterlassen, Namen an die graffitiübersäten Wände schreiben konnten. Für ihn ist das Tacheles ein zwei Jahrzehnte umspannendes Gesamtkunstwerk.

Die ganze Welt verliert das Tacheles

"Where shall we go know?" Diese zentrale Frage prangt auf einem Tuch an der Fassade der Ruine. Einige Künstler sollen in einem Club im Berliner Bezirk Neukölln neue Ateliers gefunden haben. Und im Netz gibt es nun ein virtuelles Tacheles. Doch die 14-jährige Schülerin Marie Charlotte aus Berlin ist empört: "Dass das Tacheles zugemacht wird, ist eine Schande! Es ist ein Wahrzeichen der Stadt!" Tacheles-Sprecher Martin Reiter prangert die Schließung als "Kunstraub unter Polizeischutz" an. Und Illustrator Roman Kroke resümiert: "Nicht nur Berlin - die ganze Welt verliert das Tacheles."