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Ausbruch aus der Schockstarre

Sabine Damaschke, Janine Albrecht3. Dezember 2013

Nach dem PISA-Schock 2001 hat Deutschlands Bildungssystem international aufgeholt. Die Schüler konnten sich jetzt verbessern. Doch weiterhin gibt es keine soziale Chancengleichheit.

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Schüler malen das Wort 'PISA' auf eine Tafel (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Würden sie noch leben, könnten Adam Riese und Johann Wolfgang von Goethe diesmal zufrieden sein. Die deutschen Schüler haben beim fünften internationalen Schulleistungstest PISA so gut abgeschnitten wie noch nie. Zum ersten Mal lagen sie in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen über dem Durchschnitt der 510.000 getesteten 15- bis 16-jährigen Jugendlichen in 65 Staaten.

Beim aktuellen Schulleistungsvergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der am Dienstag (03.12.2013) in Berlin vorgestellt wurde, kamen die deutschen Schüler auf Platz 16. Eine deutliche Verbesserung gegenüber der ersten Pisa-Studie, die im Jahr 2001 veröffentlicht wurde. Damals konnte mehr als ein Fünftel der Schüler aus Klasse 9 nur auf Grundschulniveau lesen und rechnen - und das im Land der Dichter und Denker. Deutschland landete auf Platz 22 von 32 getesteten Nationen - ein Schock, der in den vergangenen 12 Jahren zu umfassenden Bildungsreformen führte.

Mathematik - eine Sache der Jungen

"Der Pisa-Schock hat die Bildung ins politische und öffentliche Bewusstsein gerückt", erklärt Manfred Prenzel, Dekan der School of Education an der Technischen Universität München und Nationaler Projektmanager für PISA 2012, der DW. Dieses Bewusstsein habe in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Veränderungen im deutschen Bildungssystem angestoßen. Mit Erfolg, wie sich nun zeige. So wurde etwa die frühkindliche Förderung als wichtiger Schlüssel für gute Schulleistungen erkannt, Sprachtests eingeführt, um Defizite - vor allem bei Kindern aus Einwandererfamilien - rechtzeitig zu erkennen, und auch die Lehrerausbildung wurde verändert.

Schüler schreiben eine Klausur (Foto: dpa)
Schüler schneiden bei den Leistungstests besser ab - dank einiger BildungsreformenBild: picture-alliance/dpa

Besonders erfolgreich schnitten die deutschen Schüler in Mathematik ab, dem Schwerpunkt der aktuellen Pisa-Studie. Mit durchschnittlich 514 Punkten liegen sie über dem OECD-Durchschnitt und haben einen Vorsprung von einem halben Schuljahr. Allerdings waren die Jungen deutlich besser als die Mädchen. OECD-Bildungsdirektorin Barbara Ischinger richtet einen besorgten Appell an Deutschlands Politiker, Lehrer und Eltern: "Im Hinblick auf Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sollte alles daran gesetzt werden, das Interesse der Mädchen an Mathematik zu wecken", mahnt sie.

Wieder Spitzenreiter: Die ostasiatischen Länder

In den südostasiatischen Ländern scheint das besser zu gelingen. Wie schon im letzten Pisa-Test 2009 sind sie auch diesmal Spitzenreiter. Unter den Top-Ten bei Mathematik befinden sich sieben asiatische Länder. Die höchste Punktzahl (613) verzeichnet Shanghai. Dort sind die Schüler fast drei Schuljahre besser als ihre Altersgenossen im OECD-Durchschnitt. Auf Platz 2 und 3 folgen Singapur und Hongkong. In Europa belegen Liechtenstein und die Schweiz die vorderen Plätze. Finnland dagegen, Spitzenreiter der ersten Pisa-Studie, kam diesmal nur auf Platz 12.

Unterricht in einer chinesischen Schule. Die Lehrerin hilft einem Grundschüler (Foto: picture-alliance/Photoshot)
Förderung von Anfang an - Schüler in Shanghai haben die besten Pisa-ErgebnisseBild: picture alliance/Photoshot

Maßstäbe hat das skandinavische Vorzeigeschulsystem dennoch gesetzt. Der Grundsatz, schwächere Schüler aus sozial benachteiligten Familien besser zu fördern, machte international Schule. Asiatische Spitzenländer wie Hongkong oder Korea, aber auch Australien, Kanada und Liechtenstein kombinierten "hohe Leistungen mit einer gerechten Verteilung der Bildungserträge", heißt es in der Studie. Deutschland kommt ebenfalls gut weg: Es sei neben Mexiko und der Türkei das einzige Land, das es seit 2003 geschafft habe, sowohl seine Ergebnisse in Mathematik zu verbessern als auch die Chancengleichheit bei der Bildung zu erhöhen, loben die Bildungsexperten.

Einwandererkinder brauchen gute Lehrer

Dennoch liegen Jugendliche aus eingewanderten Familien in der aktuellen Pisa-Studie in ihren Mathematikleistungen noch immer knapp anderthalb Schuljahre hinter ihren deutschen Mitschülern. Für den weltweiten Koordinator der Pisa-Studien bei der OECD, Andreas Schleicher, hat das auch mit den Lehrkräften zu tun. "Die soziale Ungerechtigkeit hängt in Deutschland stärker mit der Einschätzung der Lehrer zusammen als mit den Leistungen", sagt er der DW.

Schüler mit Migrationshintergrund nehmen in einer Leipziger Schule am Deutschunterricht teil (Foto: dpa)
Immer noch Sorgenkinder bei Pisa in Deutschland: Schüler aus MigrantenfamilienBild: picture-alliance/dpa

Viele Kinder würden aufgrund ihrer Herkunft unterschätzt und erreichten deshalb auch nicht ihre Leistung. Auf den Lehrer also kommt es an. Das, so betont die Studie, sei jedenfalls in den Spitzenländern zu beobachten. Sie legten allesamt großen Wert auf die Auswahl und Ausbildung ihrer Lehrer. Die Klassengröße spiele dagegen eher eine untergeordnete Rolle für den Bildungserfolg der Schüler.

Plädoyer für längeres gemeinsames Lernen

"Ich habe gesehen, dass man praktisch alle Schüler zu wirklich guten Leistungen motivieren kann", sagt Schleicher. Daher fordert der Pisa-Koordinator, den Erwartungshorizont noch wesentlich höher zu stecken. Seine zahlreichen Reisen nach Asien hätten ihn in diesem Denken bestärkt. "In Shanghai gibt es in Mathematik keinen leistungsschwachen Schüler. Mathematik ist etwas, das jeder Schüler aus jeder Schicht lernen kann", so seine Erkenntnis. Den oft kritisierten asiatischen Drill habe er im Unterricht kaum gesehen, betont der Bildungsexperte.

Andreas Schleicher, Leiter der Abteilung für Indikatoren und Analysen im Direktorat der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) (Foto: dpa)
Pisa-Koordinator Andreas Schleicher fordert mehr Anstrengung für BildungsgerechtigkeitBild: picture-alliance/dpa

Wie viele andere Bildungsexperten auch plädiert Schleicher für ein längeres gemeinsames Lernen. Die frühe Trennung der Schüler in Deutschland nach der vierten oder fünften Klasse, um dann auf verschiedene weiterführende Schulen - vom Gymnasium bis zur Hauptschule - zu gehen, hält er für falsch. "Schauen wir uns die im Pisa-Vergleich stärksten Länder an. Die haben es alle erkannt, dass die Aufgabe von gutem Unterricht ist, mit Schülern in ihrer Verschiedenheit konstruktiv umzugehen", betont der Bildungsforscher.

Bessere Bildungschancen mit Ganztagsschulen

Trotz aller Studien und Diskussionen um die Chancengleichheit hält die deutsche Politik am gegliederten Schulsystem fest. Anders sieht es mit den Ganztagsschulen aus. Laut Bertelsmann Stiftung hat sich der Anteil der Ganztagsschüler in den vergangenen zehn Jahren auf 30 Prozent verdreifacht. Auch hier versprechen sich Bildungsexperten bessere Lernerfolge, vor allem für schwache Schüler. Mittlerweile sei der international übliche Ganztagsunterricht auch in Deutschland zunehmend akzeptiert, lobt Schleicher.

In einer Grundschulklasse melden sich fast alle Kinder, weil ihnen der Unterricht Spaß macht. (Foto: dpa)
Schule soll Spaß machen - im GanztagBild: picture-alliance/dpa

Insgesamt also attestiert der Bildungsforscher Deutschland bei der Chancengleichheit einen guten Weg. Pisa hat das Land der Dichter und Denker aus seinem Bildungsschlaf wach gerüttelt. Schleicher befürchtet jedoch, dass die anfängliche Reformdynamik deutlich nachgelassen hat. Jeder werde besser als er es gestern war, das sei nicht die Kunst, meint er. "Die Anforderungen in einer Wissensgesellschaft verändern sich ständig. Was gestern gut genug war, reicht morgen wahrscheinlich nicht mehr."