Auschwitz als Installation
13. März 2006Man kann nichts sehen. Man kann auch nichts riechen - jedenfalls nicht, solange man die Gasmaske trägt. Doch wer den Raum betritt, wird "die Gewissheit des individuellen Todes verspüren", glaubt der Urheber des Projekts zu wissen. Schließlich ist die Kohlendioxidkonzentration darin tödlich. Die Abgase von sechs Autos und ein ausgeklügeltes Kontrollsystem sorgen dafür, dass die Mischung konstant bleibt.
Man könnte diese Art nachgestellter Gaskammer für ein neues Spektakel aus dem Reich geschmackloser Reality-Shows und Überlebenscamps halten. Doch der Schauplatz ist die Synagoge in Pulheim-Stommeln nahe Köln, und es handelt sich um das jüngste Projekt des spanischen Künstlers Santiago Sierra. Provokation und Aufregung sind das Ziel
Sierra ist dafür bekannt, mit seinen Inszenierungen an die Grenzen des guten Geschmacks zu gehen und zu provozieren. Meist thematisiert er gesellschaftliche Probleme, nimmt auch gern die etablierte Kunstszene auf den Arm. Sierra legte schon den Verkehr in Mexiko-Stadt mit einer Straßensperrung lahm, dann mauerte er auf der Biennale in Venedig den spanischen Pavillon zu - Eintritt nur mit spanischem Pass.
Im vergangenen Jahr sorgte er in Deutschland für Aufregung, als er in der hannoverschen Kestnergesellschaft einen Raum mit Schlamm füllte. Damit wollte er an die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Aushebung des Maschsees bei Hannover in den 1930er Jahren erinnern. Immer macht Sierra sich bei seiner Arbeit den Missstand, den er anprangert, selbst zunutze.
Jüdische Vertreter kritisieren die Kunstaktion
Auch "245m³", wie Sierra die Arbeit "in Anspielung auf die Leere dieser nicht mehr genutzten Synagoge" nennt, schockiert - besonders die jüdische Gemeinschaft. Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, nennt das Projekt "einen Skandal", der jüdische Schriftsteller Ralph Giordano bezeichnet die Aktion als "niederträchtig". Die Installation verletze die Würde der Opfer des Holocaust und die der jüdischen Gemeinschaft, befindet Kramer: "Das hat absolut nichts mehr mit Gedenkkultur zu tun."
Dabei stand von Anfang an die Idee im Vordergrund, an die Opfer des Holocaust zu erinnern, erklärt Angelika Schallenberg, Leiterin der Kulturabteilung der Stadt Pulheim. Seit 1991 ist die Synagoge dem Gedenken gewidmet und lädt alljährlich einen Künstler ein, die Vergangenheit zu thematisieren und mit der Öffentlichkeit in Dialog zu treten.
Neuer Weg zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust
In einer Zeit, wo Augenzeugen der Naziverbrechen aussterben, wolle Sierra auf neuem Weg zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anregen, erklären die Veranstalter. Der Künstler selbst war bei der Ausstellungseröffnung nicht anwesend und enthält sich vorerst, abgesehen von einer kurzen schriftlichen Erklärung, jeden Kommentars. Zum einen, um kein Quäntchen Aufmerksamkeit von dem Projekt abzuziehen, heißt es. Zum anderen soll sich jeder Besucher eine eigene Meinung bilden und für sich entscheiden: "Gehe ich rein oder nicht?"
Es ist allerdings gar nicht so leicht, in die Synagoge hineinzukommen. Die Ausstellung ist bis Ende April nur sonntags geöffnet, und auch dann hält ein schlichtes Tor mit Davidstern die Besucher erstmal auf Abstand. Nur wer unterschreibt, weder unter Kreislauf- noch Herzbeschwerden zu leiden, nicht schwanger zu sein oder zu Panikattacken zu neigen, hat eine Chance. Bartträger sind ebenfalls ausgeschlossen, denn bei ihnen hält die Gasmaske nicht dicht.
Nur wenige Interessierte kommen in die Ausstellung
Der Name Sierra und der offensichtliche Tabubruch garantieren zudem weit mehr Interessierte, als tatsächlich Besucher eingelassen werden können. So konnte am Eröffnungstag (12.3.) nur ein Bruchteil der Wartenden die 245 Kubikmeter Gas besichtigen, berichtet Schallenberg. Zwar darf keiner länger als fünf Minuten im Gebäude verweilen, aber das Anlegen der Gasmaske dauert seine Zeit. Außerdem dürfen Besucher immer nur einzeln eintreten, sieht man von den zwei Feuerwehrleuten ab, die sie begleiten und im Fall der Fälle eingreifen. Die örtliche Feuerwehr hatte es übrigens abgelehnt, den Job zu übernehmen. Ein privates Feuerwehrunternehmen aus Remscheid sorgt nun für Sicherheit.
Ob die Besucher sich danach eingehender mit der Historie auseinandersetzen oder besser nachvollziehen können, was die Opfer in Auschwitz und anderen Vernichtungsstätten damals empfunden haben, ist zu bezweifeln. Was auf jeden Fall haften bleibt, ist der beißende Geruch an Kleidung und Haaren.
Doch die Proteste haben sich schnell ausgewirkt. Am Montag (13.3.) teilte ein Sprecher der Stadt Pulheim mit, sie wolle ihr Projekt aussetzen. Das frühere jüdische Bethaus soll entgegen ursprünglicher Planung am nächsten Sonntag geschlossen bleiben. "Wir wollen Zeit gewinnen, um Gespräche führen zu können", sagte der Sprecher. Der spanische Künstler werde anreisen, um mit Kritikern wie dem Zentralrat der Juden, der Synagogengemeinde Köln und dem Publizisten Ralph Giordano zu sprechen. "Sierra geht davon aus, dass er die Kritiker von seinem Projekt überzeugen kann", erklärte der Sprecher der Stadt Pulheim.