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Auszeichnung für Flüchtlingsorganisation

Michael Gessat2. September 2012

Die Hilfsorganisation "borderline-europe" ist mit dem Aachener Friedenspreis geehrt worden. Die Menschenrechtler üben scharfe Kritik an dem "Massensterben" und der "Abschottungspolitik" an den Außengrenzen der EU.

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Flüchtlingsboot im Frühjahr 2011 vor Lampedusa (Foto: Giorgos Moutafis/AP/dapd)
Bild: dapd

"Flüchtlingsdrama im Mittelmeer – über 70 Menschen ertrunken" – "Küstenwache bringt seeuntüchtiges Schiff auf" – "Gewalttätige Ausschreitungen auf Lampedusa": In den abendlichen Hauptnachrichtensendungen in Deutschland tauchen solche Meldungen schon lange nur noch auf, wenn es "größere Vorkommnisse" gegeben hat. Aber das "Drama" ist eine Dauerveranstaltung: Seit vielen Jahren versuchen Menschen aus Afrika, in Schlauchbooten oder überfüllten Kähnen nach Europa zu kommen, seit vielen Jahren versucht Europa mit großem Aufwand, genau dies zu verhindern. Und seit 2007 versucht die Hilfsorganisation "borderline-europe" den Flüchtlingen eine Stimme zu geben.

Die Küstenwachen Italiens und Griechenlands, Spaniens und Frankreichs, logistisch und personell unterstützt von der EU-Grenzschutzagentur "Frontex", haben eine Mission, die ans Absurde grenzt: Einerseits sollen Flüchtlingsboote notfalls auch mit Zwangsmitteln zur Umkehr gebracht werden, andererseits dürfen dabei natürlich keine Menschenleben gefährdet werden. Im Gegenteil, die Grenzschützer sind zur Hilfeleistung verpflichtet, wann immer Flüchtlinge erkennbar in Seenot geraten sind - sei es durch Krankheiten, Wasser- oder Treibstoffknappheit an Bord; sei es, weil ein überfüllter Kahn schlichtweg unterzugehen droht.

Europa zeigt ein "mörderisches Gesicht"

Ob da bei allen Einsätzen der Küstenwachen die Balance zwischen Härte und humanitärer Verpflichtung gewahrt bleibt, darüber erfährt die Öffentlichkeit kaum etwas. Elias Bierdel, der Gründer und Vorstand der Hilfsorganisation "borderline-europe" verweist auf Schätzungen der UNO, denen zufolge im Jahr 2011 allein im Mittelmeer rund 1800 Flüchtlinge ihr Leben verloren haben: "Das ist natürlich ein ungeheuerlicher Skandal, wenn man bedenkt, dass das Mittelmeer eine Hochsicherheitszone ist, wo ganz viele Schiffe mit europäischen Beamten unterwegs sind und wir davon ausgehen, dass jedes auch noch so kleine Boot auch gesehen wird."

Elias Bierdel, Gründer und Vorstand von "borderline-europe" (Foto: dpa)
Elias Bierdel, Gründer und Vorstand von "borderline-europe"Bild: picture alliance/dpa

Wenn Flüchtlingsboote über Tage und Wochen zwischen verschiedenen Küstenwachen hin- und hergeschoben würden; im angeblichen oder tatsächlichen Wirrwarr zwischen europäischen und nationalen Zuständigkeiten – und wenn dann am Ende an Bord nur noch ganz wenige überlebten, dann könne man nicht nur mehr von unterlassener Hilfeleistung sprechen, sagt Bierdel: "Das geht schon in einen Bereich hinein, wo das wirklich einfach ein mörderisches Gesicht ist, das unser Europa dort zeigt."    

Der Fall Cap Anamur

Mit der Strategie Europas, an seinen südlichen Außengrenzen auf Abschottung und Abschreckung zu setzen, hat Elias Bierdel seine ganz persönlichen Erfahrungen gemacht: 2004 hatte das Hilfsschiff "Cap Anamur" 37 aus Seenot gerettete afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien an Land gebracht, obwohl die Behörden dies zunächst nicht genehmigt hatten.

Die Cap Anamur 2004 vor Sizilien Foto: (AP Photo/Alessandro Fucarini)
Die Cap Anamur 2004 vor SizilienBild: AP

Bierdel, damals Vorsitzender des Vereins "Cap Anamur", der Kapitän und der Erste Offizier des Schiffes wurden festgenommen und wegen "Beihilfe zur illegalen Einreise" bzw. "Schlepperei" angeklagt. 2009 wurden alle drei freigesprochen.

Eine Tendenz in der EU, die "Festung Europa" auch mit juristischen Mitteln verteidigen zu wollen, sehen Bierdel und "borderline-europe" aber nach wie vor: "Das ist eben hier die groteske Verdrehung von einfachen Rettungsmaßnahmen in irgendetwas Widerliches, Kriminelles; und das betrifft ja nicht nur die Cap Anamur 2004." Auch tunesische Fischer, die sinkenden Flüchtlingsbooten zu Hilfe gekommen waren, fanden sich anschließend als angebliche "Schleuser" vor italienischen Gerichten wieder; "borderline-europe" hatte die Angeklagten zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen unterstützt.

Einwanderung und Ausbildung statt Abschottung

Dass es tatsächliche Schleuser gibt, die von Flüchtlingen profitieren oder diese bewusst in Gefahr bringen, ist Bierdel bewusst; ebenso auch die Tatsache, dass Hilfeleistungen für Flüchtlinge wieder neue Flüchtlinge ermuntern - oder auch Migranten, die sich "nur" in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen auf den Weg nach Europa machen. Aber eine Strategie, die unausgesprochen den Tod von Menschen in Kauf nimmt, um andere vom Kommen abzuschrecken, sei moralisch nicht akzeptabel: "Selbstverständlich muss die Abwehr von Booten auf See, das Abdrängen sofort aufhören, das ist auch Beschluss des Menschengerichtshofs in Straßburg." Man müsse zunächst alle Flüchtlinge an Land bringen, um dann über Asyl oder Abschiebung zu entscheiden. Und dann sei innereuropäische Solidarität gefragt: "Gemeinsame Außengrenzen können nur heißen: gemeinsame Verantwortung auch für die Menschen, die da ankommen."

"borderline-europe" will sich für eine Welt einsetzen, in der man "anders, angstfrei und rational" mit Flüchtlingen und mit Migranten umgeht, sagt Bierdel. Er selbst hat eine noch viel weitergehende Vision: Eigentlich müsse Europa, müsse auch Deutschland vollkommen umschwenken bei seiner Einwanderungsstrategie - nicht nur aus moralischen, sondern auch aus ganz pragmatischen Gründen: Praktisch alle Länder der EU hätten ein ernsthaftes demografisches "Nachwuchsproblem" bei der eigenen Bevölkerung. Deutschland solle also junge Menschen aus aller Welt "zu definierten Konditionen" ins Land holen und ausbilden, schlägt Bierdel vor: "Nach der Ausbildung können wir ihnen entweder ein Angebot machen, wenn wir sie halten wollen. Gingen sie aber heim, wohin auch immer, wäre es eine Bereicherung für die Welt."