Deutsch-Polnische Orchester
20. Juni 2014Wenn die Jugendlichen, die hier in der Thomaskirche in Leipzig sitzen, ihre Köpfe ein bisschen drehen, können sie das Grabmal von Johann Sebastian Bach sehen. Die Bronzeplatte im Boden vor dem Altar liegt nur wenige Meter von ihren Stühlen entfernt. Doch dafür haben sie jetzt keine Zeit. Sie schauen alle nach vorn, in Richtung Kirchenschiff. Dort steht ihr Dirigent Jan Tomasz Adamus und hebt die Hände: Es geht los. Für mehr als eine Stunde sind die 34 jungen Teilnehmer der Deutsch-Polnischen Orchesterakademie hochkonzentriert. Dieser Sonntagnachmittag in der Thomaskirche, in der Bach vor fast 300 Jahren seine Musik aufführte, ist der Höhepunkt ihrer Arbeit. Lange und intensiv haben sie geprobt, immer und immer wieder einzelne Passagen geübt und ihre Instrumente zu einem großen Klang zusammengefügt. Jetzt können sie beim Bachfest in Leipzig zeigen, was sie gelernt haben.
Musikalische Völkerverständigung
Vor zwei Monaten trafen sich alle zum ersten Mal in Polen, im Europäischen Musikzentrum "Krzysztof Penderecki" bei Krakau. Sie hatten kaum drei Tage Zeit, ihr Programm einzustudieren. "Wir haben die ganze Zeit nur geprobt, gegessen und geschlafen", erinnert sich der polnische Cellist Pawel Czarakcziew. Viele von ihnen haben auch nach den Proben noch weiter an den Stücken geübt. Die Geigerin Caroline Müller aus Leipzig erzählt: "Das Leistungsniveau war am Anfang sehr unterschiedlich, wir mussten uns erst aneinander gewöhnen." Die Woche vor den Leipziger Auftritten verbrachten die Jugendlichen südöstlich von Leipzig auf Schloss Colditz. Hier frischten sie das Programm wieder auf und feilten an den Details. Es hat sich nicht nur musikalisch einiges verändert: Auch als Gruppe haben sich die Jugendlichen inzwischen zusammengefunden. "Natürlich gibt es immer noch die deutsche und die polnische Gruppe - die Polen sind auch viel mehr als wir", stellt Caroline fest. "Aber wir hatten in Colditz viel freie Zeit und konnten uns unterhalten. Wir haben sogar ein bisschen Polnisch gelernt!"
Damit ist ein weiteres wichtiges Ziel erreicht: Neben der Nachwuchsförderung steht bei der Orchesterakademie schließlich der internationale Austausch im Vordergrund. Auch wenn die Heimatländer der jungen Musiker in der Vergangenheit oft ein angespanntes Verhältnis hatten - davon ist im Orchester nichts zu spüren. Für den Dirigenten Jan Tomasz Adamus ist das auch ein wichtiger Lerneffekt für die Jugendlichen: "Ich glaube, dass ein Orchester nur funktionieren kann, wenn die Gesellschaft funktioniert, und umgekehrt. Kultur bringt Menschen zusammen. Und hier bei der Akademie spielen die jungen Leute zusammen und merken: Wir arbeiten gemeinsam an etwas, das ist gut, das ist wichtig."
Zum Abschluss: Festivalluft schnuppern
Diesen Teamgeist brauchen die Musiker auch, denn das Programm ist anspruchsvoll: Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 5, ein Konzert von Telemann, eine Sinfonia des polnischen Spätbarock-Komponisten Jan Engel und zwei Sinfonien von Carl Philipp Emanuel Bach. Das Jugendorchester führt die Stücke am 15. Juni zum vierten Mal auf, nach den beiden Konzerten in Polen und dem Auftritt auf dem Leipziger Marktplatz am Vorabend. "Hätte mir vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass ich mal beim Bachfest in Leipzig spielen würde, hätte ich ihn ausgelacht", grinst Pawel, der Cellist. "Jetzt sind wir hier, und ich bin ziemlich aufgeregt."
Die Nervosität lässt erst im Konzert nach. Die Läufe klappen, die Intonation stimmt jedenfalls fast immer. Als schließlich die letzten Töne verklungen sind, füllen Applaus und Bravo-Rufe die Kirche. Bei den Jugendlichen macht sich Erleichterung breit. Sie sehen stolz und glücklich aus, fallen sich strahlend in die Arme. Die Polen machen sich bald auf den Weg zurück nach Hause. Im Gepäck haben sie wertvolle Erinnerungen an die Tage beim Bachfest Leipzig. Und mancher, wie die Oboistin Magdalena Sulkowska, hat sogar seine Liebe zu Bach mit der Akademie erst richtig entdeckt: "Vorher habe ich nicht so viel Bach gespielt. Aber jetzt, wo ich ihn ein bisschen besser kenne, liebe ich seine Musik! Ich finde, wir sollten viel öfter Bach spielen und uns daran freuen."
Unsere Hörbeispiele wurden am 15. Juni 2014 von der DW in der Thomaskirche in Leipzig aufgenommen. Es spielt die Deutsch-Polnische Orchesterakademie; Ltg: Jan Tomasz Adamus.