Von Syriens Hoffnungsträger zum Diktator
17. Juli 2020Ein Grenzübergang soll reichen. Nur über die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Ortschaft Bab al-Hawa sollen künftig Hilfslieferungen in die wenigen noch von Regimegegnern kontrollierten Gebiete in Syrien kommen. Damit sind drei von ursprünglich vier Zugängen dicht. So haben es Russland und China vergangene Woche im UN-Sicherheitsrat durchgesetzt.
Die beiden Vetomächte argumentieren, das UN-Hilfsprogramm verletze die Souveränität Syriens, da die Regierung in Damaskus dieses nicht formell genehmigt habe. Nachrichtenagenturen zufolge will Moskau die Hilfslieferungen schrittweise auslaufen lassen. Doch allein im Nordwesten Syriens sind nach UN-Angaben 2,8 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.
"Mit dem Schuh auf dem Kopf"
Selbstbehauptung durch rücksichtslosen Druck auf die eigene Bevölkerung: Diese Strategie ist charakteristisch für den Herrschaftsstil jenes Manns, dessen Interessen Russland und China im höchsten UN-Gremium vertreten. Seit seiner Vereidigung vor 20 Jahren, am 17. Juli 2000, stützt Syriens Präsident Baschar al-Assad seine Herrschaft auf das Prinzip von Furcht und Schrecken. "Es gibt keinen anderen Weg, unsere Gesellschaft zu regieren, außer mit dem Schuh auf dem Kopf der Menschen", zitiert Sam Dagher, der Jahre lang für das "Wall Street Journal" aus Damaskus berichtet hatte, einen Ausspruch des jungen Baschar al-Assad aus dem Jahr 1995.
In jenem Jahr starb sein älterer Bruder Basil bei einem Autounfall und fortan wurde Baschar al-Assad zum Nachfolger seines Vaters Hafiz al-Assad aufgebaut, der das Land seit 1970 mit eiserner Hand regiert hatte. In diese Zeit, so der Journalist Dagher in seiner 2019 erschienen Biographie der Assad-Familie, fällt auch die innere Wandlung des damals 30-Jährigen, der sich zunächst aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters befreien musste.
Assad modernisiert den Überwachungsstaat
Baschar al-Assad erschien vielen zunächst ein ganz anderer Herrscher-Typ zu sein als sein Vater oder Bruder: weniger draufgängerisch, eher zurückhaltend auftretend. Mitte der 1990er Jahre lebte er in London, wo er nach seinem Medizinstudium eine Ausbildung zum Augenarzt machte. Ein westlich ausgebildeter Mediziner als Nachfolger eines nahöstlichen Diktators: Dieses verheißungsvolle Image kam ihm in seiner Anfangszeit als Staatschef zugute. Für kurze Zeit erlebte Syrien mit dem "Damaszener Frühling" eine Periode, in der Intellektuelle vergleichsweise offen über Demokratie und Bürgerbeteiligung diskutieren konnten. Baschar galt vielen als Hoffnungsträger.
Ein Irrtum, sagt die Journalistin Kristin Helberg, die lange als eine von wenigen westlichen Journalisten aus Damaskus berichtet und mehrerer Bücher über Assads Syrien geschrieben hat. "Das Bild des Hoffnungsträgers beruhte auf einem Missverständnis." Viele Syrer und auch westliche Politiker hätten angenommen, wer sich für Computer und Internet interessiere und sich in England ausbilden lasse, werde das Land reformieren.
"Tatsächlich war und ist Baschar aber kein Reformer", so Helberg gegenüber der DW. Sein Selbstverständnis sei das eines Modernisierers gewesen. "Macht abzugeben oder das Herrschaftsgefüge seines Vaters grundlegend zu verändern, dazu war Baschar weder bereit noch in der Lage. Er war und ist Kind eines 50 Jahre alten Überwachungsstaates, der auf allen Ebenen autoritär geführt und von einem skrupellosen Herrschaftsclan ausgebeutet wird - auch wenn sein Auftreten nicht das eines polternden Diktators ist."
"Habe keinerlei Mitleid!"
Baschar al-Assad kannte nicht nur das weltoffene London. Ebenso vertraut war er mit den diktatorischen Verhältnissen daheim - wie auch der Gefahren, die der Herrscherfamilie drohen konnten. So wurde in seiner Jugendzeit ein Chauffeur aus dem Umfeld der Familie verhaftet. Er habe einen Anschlag auf den jungen Baschar geplant, hieß es. "Die Assad-Kinder nahmen aus dem Vorfall die Lehre mit, dass sich ihr Feind überall verstecken kann. Man darf ihm keine Chance lassen", resümiert Biograph Dagher. "Man muss die Verräter überall suchen. Man muss sie rupfen, wo immer man sie findet", lehrte Hafiz al-Assad seinen Sohn. Und: "Habe keinerlei Mitleid!"
Assad Senior hatte diese Maxime seit Anfang der 1970er Jahre konsequent beherzigt - und Syrien in einen Polizei- und Folterstaat verwandelt. Der Journalist Mustafa Khalifa, seit Jahren im französischen Exil, saß wegen seiner Kritik am Regime Jahre im berüchtigten Gefängnis Tadmur nahe der Wüstenstadt Palmyra. In seinem Roman "Das Schneckenhaus" schildert er die systematische Folter der Gefangenen, von täglichen Gewaltexzessen bis zum Trinken aus einem Abwasserrohr, einem Gemisch aus "Speichel, Rotz, Urin und anderem Dreck".
Angst als Herrschaftsinstrument
Die Folter ist bezeichnend für den Umgang des Regimes mit Kritikern und Gegnern. "Die ganze syrische Bevölkerung hat Angst", so Khalifa im DW-Interview. "Alle wissen, dass es diese Gefängnisse gibt und dort gefoltert und getötet wird. Alle wissen, es gilt nur das Recht des Stärkeren, aber die Leute wollen ihr Leben nicht aufs Spiel setzen. Das sind die Methoden des Regimes."
Diesen Regierungsstil machte sich Baschar al-Assad bald selbst zu eigen. Modernisierung ja, politische Reformen nein: Das sind die Prämissen, von denen er sich leiten lässt. "Diese Leute haben ihren Verstand verloren, sie leben in einer Phantasiewelt", kommentierte er im Jahr 2000, unmittelbar nach seinem Amtsantritt, gegenüber seinem damaligen Vertrauten, dem später geflohenen Kommandanten Manaf Tlass, als Syrer im "Damaszener Frühling" mehr Demokratie fordern. "Gib ihnen einen Finger, und sie wollen die gesamte Hand", äußert er gegenüber einem anderen Mitarbeiter.
Um solche Wünsche zu unterdrücken, braucht Assad einen ausgeklügelten Apparat - heute mehr denn je, sagt Kristin Helberg. "Für Assad ist der Sicherheitsapparat unverzichtbar. Sein Vater errichtete ein Netzwerk aus verschiedenen Geheimdiensten, die miteinander konkurrieren und sich so gegenseitig in Schach halten. Kein Geheimdienstchef ist mächtig genug, um gegen Assad zu putschen."
Der Diktator hat seine Souveränität verspielt
Dennoch ist Baschar al-Assad im zehnten Jahr des Krieges kaum mehr Herr über Syrien - auch wenn ein Großteil des Landes inzwischen wieder formell unter seiner Kontrolle steht. Den Aufstand von 2011 hatte er brutal niederschlagen, der daraus resultierende Krieg hat mehr als 500.000 Todesopfer gefordert, viele davon gehen auf sein Konto.
Die Diskussion im UN-Sicherheitsrat um die Hilfslieferungen zeigt, wie sehr Assad vor allem auf die Hilfe Moskaus angewiesen ist. Russland lässt sich seine militärische Unterstützung teuer bezahlen, ebenso wie der Iran, Assads zweite Schutzmacht. Beide Staaten sind militärisch, politisch und wirtschaftlich in Syrien präsent, die künftige Entwicklung des Landes wird auch von ihren Vorstellungen geprägt sein. Politisch hat Assad die Unabhängigkeit seines Landes verspielt.
Für den Präsidenten gebe es aber kein Zurück, sagt Helberg. Jede echte Reform würde sein System zum Einsturz bringen. "Deshalb kann sein Regime nur weitermachen wie bisher - unterdrücken, foltern, korrumpieren - und den um jeden Preis geführten Kampf um den eigenen Machterhalt mit Lügen und Propaganda als Kampf gegen den Terror verkaufen."