Baustein in Putins Machtstrategie
28. Oktober 2003Der reichste Mann Russlands, Chef des größten russischen Ölkonzerns Jukos, Michail Chodorkowski, sitzt seit Sonnabend (25.10.) in Untersuchungshaft. Die russische Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Betrug, Bilanzfälschung und Steuerhinterziehung vor - insgesamt sieben Anklagepunkte. Den gesamtwirtschaftlichen Schaden beziffern die Staatsanwälte auf rund eine Milliarde US-Dollar. Dies ist der vorläufige Höhepunkt eines Feldzuges, den der russische Staat seit gut einem halben Jahr gegen Jukos und seinen Chef führt.
Bereits am Montag (27.10.) musste der Handel an der Moskauer Börse zeitweise ausgesetzt werden, denn die Jukos-Aktien brachen um fast 20 Prozent ein. Jukos zog auch andere Wertpapiere mit, der Gesamtverlust der Moskauer Börse überstieg 13 Prozent. Russlands Präsident Putin warnt unterdessen vor "überzogener Hysterie" und meint, die Regierung dürfe sich in die Diskussion um Chodorkowski nicht hineinziehen lassen.
Wilde Privatisierung als Goldquelle
Das Privatvermögen des Michail Chodorkowski wird auf 6,9 Milliarden Dollar geschätzt. Nun fragt sich natürlich jeder, wie man in so einer kurzen Zeit so einen unermesslichen Reichtum anhäufen kann. Da muss es doch mit unrechtmäßigen Dingen zugegangen sein? Ist es wahrscheinlich auch. Die sogenannte "wilde Privatisierung" in den 90er Jahren, der große Ausverkauf der ehemals staatssozialistischen Wirtschaft und der Bodenschätze des Landes geschah im rechtsfreien Raum. Insofern sind praktisch alle größeren Vermögen und Wirtschaftsimperien in Russland auf illegalem oder doch halblegalen Wege entstanden.
Aber gerade Jukos war das strahlende Beispiel dafür, wie ehemalige Raubritter zu honorigen Geschäftsleuten mutieren. Jukos war der erste russische Konzern, der eine absolut transparente Buchführung praktizierte, was auch von namhaften westlichen Wirtschaftsprüfern bestätigt wird. Im vorigen Jahr führte der Ölgigant 4,5 Milliarden Steuern an den russischen Staat ab.
Auch andere Unternehmer wurden kalt gestellt
Warum also hat sich die russische Staatsanwaltschaft ausgerechnet Chodorkowski vorgeknöpft? Aufschluss gibt vielleicht die Reihe der bereits aus dem Lande vertriebenen und teilweise enteigneten russische Oligarchen. Nehmen wir die Medienmogule Boris Beresowski und Vladimir Gusinski. Auch in ihren Fällen ging es offiziell um Wirtschaftsverbrechen. Allerdings haben unabhängige Gerichte in Spanien, Großbritannien und Griechenland entschieden, dass es sich in Wirklichkeit um politische Verfolgung der Angeklagten handelte. Die Auslieferungsgesuche der russischen Staatsanwaltschaft wurden abgewiesen. Die russische Justiz hat sich blamiert, aber das Hauptziel - die Gleichschaltung der elektronischen Medien in Rußland - war erreicht.
Nun ist Michail Chodorkowski an der Reihe. Er hat es gewagt, nicht die von Putin favorisierte Regierungspartei "Einheitliches Russland", sondern die liberalen Parteien "Union der rechten Kräfte" und "Jabloko" finanziell zu unterstützen. Er hat es gewagt, die russische Justiz offen als Vollstreckungsgehilfen der Präsidialmacht zu bezeichnen. Er hat es gewagt, unabhängig zu sein.
Beobachter in Moskau weisen aber auch auf ein langfristiges Ziel der Kremlstrategen hin. Seit seinem Amtsantritt arbeitet Präsident Putin auf eine Stärkung der Staatsmacht hin. Er hat bereits die mächtigen Provinzfürsten gezähmt und die Medien instrumentalisiert. Er hat das russische Parlament zu einer gefügigen Abstimmungsmaschine degradiert. Nun beginnt für den Präsidenten und seine Mannschaft aus Geheimdienstkreisen die Schlussetappe: die Übernahme auch der wirtschaftlichen Macht. Damit wird das von Kreml-Politologen proklamierte Modell der "gelenkten Demokratie", sprich, der ungeteilten Macht der Bürokratie, vollendet.
Die Folgen sind absehbar. Wenn die zentrale Staatsmacht den reichsten Mann des Landes hinter Gittern steckt, so ist es für die Behörden in den Provinzen ein Freibrief, ihrerseits die kleineren und mittleren Unternehmer in Ihrem Machtbereich zu erpressen oder zu enteignen. Kurzfristig führt das zu einer noch massiveren Kapitalflucht, mittelfristig - zu steigender Arbeitslosigkeit.
Aber im Moment kann sich der Kreml einer breiten Unterstützung erfreuen. Umfragen zeigen, dass bis zu 70 Prozent der Bürger Russlands die sogenannte "Enteignung der Oligarchen" befürworten. Internet-Foren spiegeln ein unappetitliches Gemisch aus sozialem Neid und latentem Antisemitismus wider. Ob diese Schadenfreude noch anhält, wenn der "räuberische Kapitalismus" einer staatlichen Planwirtschaft Platz macht? Schließlich hat die Staatsbürokratie in 70 Jahren Sozialismus ihre absolute Unfähigkeit, eine moderne Wirtschaft zu verwalten, überzeugend genug unter Beweis gestellt.