BDI-Chef: "Geschäftsmodell unter Stress"
29. November 2022Etwa jedes 60. deutsche Unternehmen hat schon vor dem starken Anstieg der Energiekosten wirtschaftliche Aktivitäten ins Ausland verlagert. 1,6 Prozent der Firmen haben dies von 2018 bis 2020 getan - "vor allem wegen Kostenvorteilen", wie das Statistische Bundesamt am Dienstag zu seiner Studie mitteilte. Dabei verlagerten 64 Prozent etwa Produktion von Waren, Marketing, Vertrieb und Kundendienst oder Forschung und Entwicklung vollständig oder teilweise aus Deutschland heraus an andere Teile innerhalb oder außerhalb ihrer Unternehmensgruppe ins Ausland. 60 Prozent gingen in das restliche Ausland.
Die Studie kommt zu einem Zeitpunkt, an dem über eine drohende Deindustralisierung Deutschlands aufgrund explodierender Energiekosten diskutiert wird. "Unser Geschäftsmodell steht enorm unter Stress", warnte Industriepräsident Siegfried Russwurm auf einer Konferenz in Berlin. Die Energiepreise, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar nach oben geschossen sind, seien ein Handicap für deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb. "Die Gefahr der Abwanderung ist real." Bei einer Umfrage in diesem Jahr unter 600 Mittelständlern hätten über 20 Prozent der befragten Firmen bereits von konkreten Plänen berichtet.
Habeck: "Industrie wird nicht kaputtgehen"
Die deutsche Industrie wird nach Einschätzung von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck durch die aktuell sehr hohen Energiepreise nicht kaputtgehen. "Das wird nicht passieren", sagte der Grünen-Politiker auf der Industriekonferenz. Dies werde die Politik nicht zulassen, das sei die Botschaft für nächstes Jahr. Es werde jetzt verstärkt darum gehen, die Sicherung des Standorts zu unterstützen.
Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, erwartet zumindest kurzfristig keine Deindustrialisierung. So schnell könnten Industrien nicht verlagert werden, sagte der Ökonom der Nachrichtenagentur Reuters. Die Frage sei aber, ob Deutschland auch langfristig ein attraktiver Standort bleibe. "Bei den energieintensiven Industrien steht das sicher infrage. Da verlieren wir an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Standorten." Weitere Belastungen wie Fachkräftemangel und zunehmender Protektionismus kämen noch hinzu. Daher müsste das Thema ernst genommen werden.
Fachkräftemangel als größte Hürde
Bei den Motiven für eine internationale Verlagerung spielten insbesondere Kostenvorteile eine Rolle, erklärten die Statistiker die Entwicklung in den Vorjahren. So war für 89 Prozent der Unternehmen die Verringerung von Lohnkosten ein wichtiges Motiv für den Schritt ins Ausland. 75 Prozent nannten andere Kostenvorteile. Der Mangel an qualifizierten Fachkräften in Deutschland war für 62 Prozent ein Grund, Unternehmensfunktionen ins Ausland zu verlagern oder dies zumindest in Erwägung zu ziehen. Gegen einen Weggang sprachen vor allem administrative oder rechtliche Faktoren: 79 Prozent der Unternehmen gaben dies an. Es folgten steuerliche Probleme (59 Prozent) sowie Zölle und andere Handelshemmnisse (54 Prozent). Die Mehrheit der deutschen Unternehmen ist in die globale Wertschöpfungskette eingebunden. 61 Prozent der knapp 64.000 Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten bezogen 2020 Waren oder Dienstleistungen aus dem Ausland oder lieferten selber welche dorthin, wie das Statistische Bundesamt weiter mitteilte.
Als eine der größten Herausforderungen für die Wirtschaft gilt auch der Fachkräftemangel. Habeck sagte, es müsse Zugang für Menschen geben, die in Deutschland arbeiten wollten. Für Ausländer seien die Hürden zu hoch. Deutschland würde von einem erleichterten Zugang, den die Ampel-Koalition derzeit plant, profitieren und sei auch darauf angewiesen. Dabei sollte es auch die Chance geben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben - eher früher als später. "Wir können es uns nicht leisten, Leute, die hier arbeiten wollen, nicht arbeiten zu lassen."
hb/iw (rtr,dpa)