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Begegnung mit dem Amokläufer von Würzburg

29. Juni 2021

Islamist oder psychisch krank? Oder vielleicht beides? Deutschland rätselt über die Motive des Amokläufers von Würzburg. Eine DW-Redakteurin begegnete ihm im Jahr 2018.

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Deutschland Würzburg l Gedenken nach der Messerattacke. Poilzisten stehen neben Kerzen und Blumen
Ort des Grauens, Ort des Gedenkens. Die Motive des Täters sind weiter unklarBild: Michael Probst/AP/picture alliance

Johanna Rüdiger (DW Kultur) traf den Würzburg-Attentäter 2018 persönlich

Ein netter Kerl, gesprächig, überhaupt nicht schüchtern. So erlebte die heutige DW-Redakteurin Johanna Rüdiger den Attentäter von Würzburg. Im September 2018 war das, in Chemnitz. Rüdiger traf Abdirahman J. damals im Auftrag der Funke-Mediengruppe. Sie berichtete über rechtsextreme Demonstrationen.

Der junge Somalier erzählte ihr, wie sie von vermummten rechtsextremen Schlägern angegriffen worden seien. Sein afghanischer Freund sei dabei verletzt worden. Rüdiger hatte die beiden in ihrer Wohnung besucht. "Sie hatten gerade Hühnchen gebacken, boten mir Essen und Trinken an, es war eine ganz normale Situation." Der afghanische Freund habe stark verängstigt gewirkt, erinnert sich Rüdiger. "Der Somalier war definitiv der Wortführer der beiden, obwohl er nicht sehr gut Deutsch sprach. Er wollte reden, ich kann schwer sagen, ob aus Geltungsbedürfnis oder weil er sich Hilfe erhoffte." Abdirahman J. fühlte sich von Rechtsextremen im Osten Deutschlands bedroht, wollte nach Westdeutschland. "Auf mich wirkte er nicht psychisch gestört, sondern sehr normal", sagt sie.

"Dschihad" und Psychiatrie

Wie konnte aus diesem scheinbar normalen jungen Mann ein mutmaßlicher Mörder werden? Einer, der nicht einmal drei Jahre später, im Alter von 24 Jahren, mit einem Messer wahllos Menschen angreift, auf sie einsticht, drei Frauen tötet?

"Drei Jahre sind in so einem kurzen Leben eine relativ lange Zeit und auch eine prägende Zeit", sagt der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg. "Da kann sehr viel passieren." Ist Abdirahman J. in dieser Zeit schwer psychisch erkrankt? Oder hat er sich religiös und politisch radikalisiert, ist zum gewalttätigen Islamisten geworden? Darüber wird in Deutschland nach dem Attentat von Würzburg intensiv diskutiert.

Noch haben die ermittelnden Behörden sich nicht festgelegt. Zeugen zufolge schrie Abdirahman J. während seines Amoklaufs "Allahu Akbar", später im Krankenhaus soll er zudem von "Dschihad" gesprochen haben. Der mutmaßliche Attentäter soll vor der Tat aber auch zwangsweise in psychiatrischer Behandlung gewesen sein.

Entweder - oder?

"Diese Dichotomisierung, also entweder psychiatrische Erkrankung oder politischer, religiöser Extremismus, wird in der Politik gerne gefordert und in der Öffentlichkeit", sagt Wagner der DW. "Und das wird durch die polizeiliche Kriminalstatistik befördert, in der die Beamten nur ein Kreuz machen können - entweder, oder. Psychologisch macht das keinen Sinn." Denn oft komme beides zusammen, ganz egal, ob es sich um islamistische, rechtsradikale oder seltener auch linksradikale Gewalttäter handele, sagt Wagner.

"Das fängt immer mit Orientierungsschwierigkeiten an. Und wenn dann erschwerende Faktoren hinzukommen und ein scheinbares Hilfsangebot durch islamistische oder rechtsradikale Gruppen, dann kommt es genau zu dieser Gemengelage von psychischer Verunsicherung, die durch einfache Erklärungen gefüllt und erleichtert wird." Daraus entstehe Gewaltbereitschaft. Manchmal erfolge Radikalisierung auch komplett im Internet.

Nach Messerattacke in Würzburg Trauerkerzen und Blumen
Blumen am Tatort: drei Frauen tötete der AngreiferBild: Nicolas Armer/dpa/picture alliance

Abdirahman J. war am 6. Mai 2015 aus dem Bürgerkriegsland Somalia nach Deutschland eingereist. Sein Asylantrag wurde zwar abgelehnt. Aber unter "subsidiärem Schutz" kann er sich dennoch legal in Deutschland aufhalten.

Die Erfahrung von Flucht, Unrecht und Gewalt sei ein Faktor, der psychische Schwierigkeiten verstärken könne, sagt Sozialpsychologe Wagner. "Auch die Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus kann die Situation verschärfen. Das soll keine Tat entschuldigen. Aber dies kann die Verunsicherung vorantreiben und damit auch die Offenheit für extremistische Propaganda."

Wie kann so etwas verhindert werden?

Wagner plädiert für eine offene Debatte über Gewalttaten wie den Angriff in Würzburg. "Es ist extrem wichtig, mehr über die Ursachen zu erfahren und darüber zu diskutieren. Wir wollen ja in Zukunft verhindern, dass so etwas noch einmal passiert." Für die Prävention sei entscheidend, dass etwa Lehrerinnen und Lehrer professionelle Unterstützung bekämen, wenn sie den Verdacht hegten, dass sich jemand radikalisiere.

Im politisch rechten Lager in Deutschland wird nach dem Anschlag von Würzburg eine Verschärfung des Asylrechts gefordert. Wer nicht nach Deutschland komme, könne hier auch keine Straftaten begehen, so die Logik. Und wer als Gefährder gelte, müsse möglichst schnell abgeschoben werden.

Deutschland Prof. Dr. Ulrich Wagner
Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität MarburgBild: Privat

"Probleme von jungen Menschen mit Fluchthintergrund durch die Androhung von Ausweisung scheinbar lösen zu wollen – das ist keine Prävention, sondern verschlimmert die Situation", meint dagegen Wagner. "Und wenn Menschen abgeschoben werden, können wir nicht verhindern, dass sie in ihren Herkunftsländern vermutlich auch nicht zurecht kommen und möglicherweise weiter radikalisiert zu uns zurückkommen. Das ist keine Prävention, sondern Zündeln."

Für DW-Reporterin Johanna Rüdiger ist immer noch unerklärlich, dass der so freundlich wirkende junge Somalier zum mutmaßlichen Mörder wurde. Wie ging der Abend im September 2018 weiter? "Ich habe mein Zweithandy in dieser Wohnung vergessen und die beiden haben es mir runtergebracht zum Taxi." Abdirahman J. sagte ihr noch einmal, dass er weg müsse aus Ostdeutschland. "Er hat mich auch hinterher angeschrieben, ob ich ihm einen Job besorgen kann." Das tat Rüdiger nicht. Stattdessen vermittelte sie den beiden psychologische Hilfe. Ob der junge Somalier sie angenommen hat? Für die Angehörigen der Opfer von Würzburg ist das wohl zweitrangig. Sie trauern um geliebte Menschen,die der mutmaßliche Attentäter aus dem Leben gerissen hat.