Buchvorstellung
30. August 2010Es rattert und klickt um Thilo Sarrazin. Fotografen und Kameraleute drängen sich um den 65-jährigen Bundesbankvorstand und ehemaligen Berliner Finanzsenator. Er ist am Montag (30.08.2010) in Berlin als Buchautor auf dem Podium und soll sein Werk mit dem Titel "Deutschland schafft sich ab" vorstellen. Sarrazin scherzt mit den Fotografen und Journalisten, er genießt die Aufmerksamkeit, die er mit seinem 460-Seiten-Werk hervorgerufen hat. Sein Marketing hat funktioniert - das Buch ist bereits jetzt ein Verkaufsschlager.
Mit Sarrazin ist die deutsch-türkische Islamkritikerin Necla Kelek gekommen. Die Frau mit den dunklen Locken darf das Buch im Auftrag des Verlages anpreisen. Das gibt der Sache einen fachlich fundierten Anstrich, denn Kelek ist Soziologin und das Buch dreht sich um soziologische Themen wie Demografie, Migration und Religion. "Hier hat ein verantwortungsvoller Bürger bittere Wahrheiten drastisch ausgesprochen", würdigt Kelek, "und um diesen Kopf soll er jetzt offensichtlich kürzer gemacht werden." Kelek bedient Sarrazins Image als einer, der kritische Themen schonungslos anspricht und Tabus bricht.
Sarrazin sieht das Volk in Gefahr
Sarrazin beschäftigt sich mit dem vermeindlichen Unheil, das der deutschen Gesellschaft von zugewanderten Muslimen drohe. Das goldene Zeitalter sei vorbei und das deutsche Volk und seine Kultur seien vom Untergang bedroht, fasst Kelek zusammen. Warum? "Die Muslime sind schlechter gebildet, überdurchschnittlich oft Empfänger von Sozialtransferleistungen, krimineller, fruchtbarer und religiöser als die Mehrheitsgesellschaft oder die Anhänger anderer Einwanderergruppen", referiert Kelek. Also würden sie immer mehr, und das Land dadurch immer dümmer. Kelek gibt zu bedenken, dass es nahe liege, "dass Ethnien, wie zum Beispiel die Völker Anatoliens oder Ägyptens [...] vielleicht andere Talente vererbt bekommen, als die Söhne Sebastian Bachs".
Wenn von einem Vorstand der Bundesbank, SPD-Mitglied und Ex-Spitzenpolitiker migrantenfeindliche Aussagen kommen und von einem großen Verlag gedruckt werden, dann ist Aufmerksamkeit gewiss. Wenn derart umstrittene Thesen geschickt durch Vorabdrucke in den meinungsstärksten Blättern der Republik in Umlauf gebracht und durch schnittige Interviews flankiert werden, dann ist der gesteuerte Skandal nicht weit. Sarrazin hat Erfahrung damit, am Wochenende zuvor hat er vorsorglich deutlich auf seine Erkenntnisse über die genetischen Grundlagen der Intelligenz hingewiesen. Er rief Erstaunen hervor mit Bemerkungen über spezielle Gene von Juden. Jetzt, bei der Buchvorstellung, bekräftigt er diese Ansichten, "es sind ja wissenschaftliche Erkenntnisse, die auch in Israel intensiv diskutiert werden", sagt Sarrazin. Er meine das nicht wertend. Er verwende viel Literatur von jüdischen Autoren: "Das zeigt ja, dass gerade die Vermutung einer negativen Zuschreibung völlig absurd ist." Die negativen Gene hätten andere.
Autor mit Faible für Statistiken
Es sind wirklich ernste Themen, die Thilo Sarrazin in sein Buch aufgenommen hat. Seine Besorgnis ist tief, der Ton ist wissenschaftlich und die Statistiken sind zahlreich. Doch es gibt einige Hinweise darauf, dass Sarrazins Buch nicht als Diskussionsgrundlage taugt. Er betrachtet Problemviertel in Berlin und schließt daraus auf Unzulänglichkeiten bei Türken und Arabern im Allgemeinen. "Alles hängt mit allem zusammen", verrät er auf der Pressekonferenz. Sein Umgang mit Zahlen ist krude. Muslime? Die kommen in amtlichen Migrationserhebungen nicht vor, also bastelt Sarrazin sich aus Zugewanderten aus Bosnien-Herzegowina, der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika eine homogene Gruppe von "muslimischen Migranten".
Massive Kritik an Sarrazin
Sarrazin spricht davon, dass er viel Lob für sein Buch bekommen habe, so zum Beispiel kürzlich in einem chinesischen Restaurant. "Alle haben mich dort freundlich angeguckt", sagt er. Aber jenseits der Stammtische, der rechtsextremen Partei NPD und konservativer Blätter hält sich die Begeisterung in Grenzen. Der Zentralrat der Juden ist empört, die SPD will ihn aus der Partei werfen, Politiker fordern seine Abberufung vom Posten bei der Bundesbank.
Einhelliges Kopfschütteln bei den Fachleuten: Migrationsforscher Klaus J. Bade, Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, ist genervt und nennt Sarrazin einen "Wiederholungstäter, der Jahre hinter dem Forschungsstand her diskutiert". Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening sieht das Gesprächsklima vergiftet. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, ist wenigstens zufrieden, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen Sarrazin gestellt hat. Doch: "Was Sarrazin da macht, ist schlecht für Deutschland, es verschreckt die Elite unter den Einwanderern."
Tabus die keine sind
Sarrazins Tabuthemen stehen seit Jahren auf der Gesprächsagenda von Piening, Kolat und Bade. Man kann auch nicht sagen, dass die Medien darüber geschwiegen hätten. Sarrazin betont indessen, dass er an einer sachlichen Diskussion interessiert sei. Er weiß, dass er provoziert, doch er blickt unschuldig in die Kameras: "Ich glaube an den öffentlichen Diskurs", sagt er. Seine Vermarktungsstrategie trägt nicht zu einem fruchtbaren Diskurs bei. Sein Buch sorgt jedoch für eine neue Zuspitzung in der Diskussion um Integration, Bildung und Islam - noch bevor das erste Exemplar im Laden verkauft war.
Autor: Heiner Kiesel
Redaktion: Klaudia Prevezanos