Behinderte Eltern
7. Mai 2014Es gab eine Zeit in Anke Kurzmanns Leben, da drehte sich alles nur noch um ihre Krankheit. Sie verbrachte ihre Tage in Kliniken, mit Ärzten und anderen Menschen, die genau wie sie mit Multipler Sklerose zu kämpfen haben. Als Frührentnerin mit Anfang 20 hatte sie das Gefühl, in der Sackgasse ihres Lebens angekommen zu sein.
Dann geschah etwas, das ihr Leben völlig umkrempeln sollte. Kurzmann wurde schwanger und brachte einen gesunden Jungen zur Welt: Artur. Seitdem hat sich ihr Leben um 180 Grad gedreht. "Ich habe endlich wieder normale Menschen kennengelernt. Und die Gespräche drehten sich nicht mehr um mein Befinden, sondern um mein Kind", erinnert sich Kurzmann. Artur (heute 13 Jahre alt) und ihr zweites Kind Bruno (heute sechs) gaben ihrem Leben wieder mehr Sinn.
Unüberwindbare Hürden
Alleinerziehend im Rollstuhl: Der Alltag ist für die heute 40-jährige Mutter ein Hürdenlauf. Immer wieder stößt sie an Grenzen, zum Beispiel beim Besuch des Kinderarztes. Die Praxis liegt im ersten Stock und es gibt keinen Aufzug. "Aus Kulanz hat die Krankenkasse die Transporte für den Kleinen übernommen", erzählt die Mutter. "Die Rettungsassistenten haben mich dann in die Praxis getragen." Das funktionierte so lange, bis die Zusatzleistung nach einer Gesundheitsreform gestrichen wurde. Danach musste Kurzmann Freunde und Verwandte bitten, mit den Kindern zum Arzt zu fahren.
Als ihre Jungs noch kleiner waren, hatte sie zeitweise eine sogenannte Familienhilfe vom Jugendamt. Ein Zivildienstleistender kam regelmäßig und fuhr Artur zur Schule, damit Kurzmann sich um ihren jüngeren Sohn kümmern konnte. Hätte sie morgens alles alleine machen wollen, hätte sie mitten in der Nacht um zwei Uhr aufstehen müssen, sagt Kurzmann.
Rechte behinderter Eltern stärken
Auch Kerstin Blochberger ist körperlich behindert und Mutter. Seit 15 Jahren engagiert sie sich im #link:http://www.behinderte-eltern.de/Papoo_CMS/:Bundesverband Behinderter Eltern# (BBE e.V.), einer Art Selbsthilfegruppe von Eltern mit Handicap. Das Ziel des Vereins ist es, die Rechte behinderter Eltern zu stärken. "Wir wollen Erfahrungen, die meine Generation gemacht hat, der nächsten ersparen", sagt Blochberger.
Erfahrungen, wie sie auch Anke Kurzmann schon machen musste. Bis heute ärgert sie sich über eine Begebenheit im Jugendamt: Sie war gerade mit ihrem zweiten Sohn schwanger und wollte für die Zeit nach der Geburt Hilfe beantragen. Eine Frau vom Amt schlug ihr vor, sich nach der Entbindung sterilisieren zu lassen. Kurzmann erfuhr am eigenen Leib, dass der Wille zur Integration behinderter Eltern noch nicht weit verbreitet ist.
Anspruch auf Familie
"Mitunter wird den Schwangeren gesagt, dass sie doch vorher gewusst hätten, dass sie Hilfe bräuchten", sagt Kerstin Blochberger vom BBE. "Sie werden gefragt, warum sie denn überhaupt schwanger geworden seien. Das ist in dieser Form eine Verletzung der Menschenrechte." Viele Ratsuchende seien dann so geschockt, dass sie die Ämter gar nicht mehr aufsuchten. "Es kommt auch immer noch vor, dass Eltern gesagt wird, wenn sie keine Lösung fänden, müsse eine Pflegefamilie für das Kind gesucht werden", so Blochberger.
Menschen mit Behinderung haben einen Anspruch darauf, eine Familie zu gründen und ihre Kinder selbst zu erziehen, so steht es in den UN-Behindertenrechtskonventionen. Die Verträge traten 2008 in Kraft und gelten auch in Deutschland. Aber bis heute hapert es mit der konkreten Umsetzung der Rechte von Behinderten in der Bundesrepublik.
"Eltern mit Behinderung werden oft gar nicht wahrgenommen", sagt Blochberger. "Rollstuhlfahrer kommen nicht ins Gebäude, es fehlen Orientierungsmittel für Blinde und Gebärdendolmetscher auf den Ämtern."
Sterilisierung behinderter Kinder bis in die 1990er
Kurzmann und Blochberger gehören zur ersten Generation behinderter Eltern in Deutschland. Jahrzehnte lang wurden viele Kinder und Jugendliche mit schwerer Behinderung sterilisiert. Das änderte sich erst 1992, als die Sterilisation Minderjähriger verboten wurde. "Seitdem ist die Zahl behinderter Eltern deutlich gestiegen, aber der Staat ist darauf nicht vorbereitet", sagt Blochberger.
Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonventionen muss der Staat die Eltern so unterstützen, dass diese ihre Kinder selbst versorgen können. Blochberger und ihre Mitstreiter vom Bundesverband behinderter Eltern fordern daher klare gesetzliche Regelungen, die es behinderten Eltern erleichtern, Hilfe zu bekommen. "Im Gesetz müsste stehen, dass Eltern mit Behinderung einen Anspruch haben auf Elternassistenz zur Versorgung ihrer Kinder", fordert Blochberger. Es brauche klare Regeln, damit Mitarbeiter in Ämtern behinderte Eltern unterstützen, und zwar nicht nur wenn es um Arbeit und Mobilität gehe.
Die Elternassistenz ist ein Anliegen, das dem Verein von Blochberger sehr am Herzen liegt. Die Mutter will, dass Eltern mit Behinderung ihre Kinder eigenständig erziehen können, dabei aber jemanden zur Seite gestellt bekommen, der immer dann zur Stelle ist, wenn Unterstützung benötigt wird. Ob diese Hilfe gewährt wird, ist bis jetzt noch von Stadt zu Stadt und Amt zu Amt unterschiedlich.
"Mehr Lebensqualität"
Anke Kurzmann managt den Alltag mit ihren Jungs allein. Manchmal ist sie unsicher, inwiefern sie Artur und Bruno im Haushalt mit einbeziehen kann. Sie will den beiden nicht das Gefühl geben, dass sie auf ihre Mithilfe angewiesen sei. "Das Wichtigste für ein Kind ist das Recht auf Kindheit", sagt sie. Kurzmann befürchtet, dass ihre Söhne darauf verzichten würden, sollten die beiden merken, dass sie Hilfe braucht. Genau das will die Mutter vermeiden. Sie wünscht sich, dass ihre Söhne genauso aufwachsen wie die Kinder gesunder Eltern.
Deswegen möchte die zweifache Mutter jetzt einen Antrag auf Elternassistenz stellen. Sie hat gehört, dass die Chancen auf die Assistenz in ihrer Stadt in den letzten Jahren gestiegen seien und sagt: "Wenn es klappt, würde das auch mehr Lebensqualität für meine Kinder bedeuten."