Kritik am Teilhabegesetz
28. Juni 2016Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles nennt das nun im Kabinett verabschiedete Bundesteilhabegesetz eine der größten Sozialreformen der Großen Koalition. Mit dem Gesetz solle es niemandem schlechter gehen, aber den meisten Menschen besser. Das sehen Wohlfahrts- und Behindertenorganisationen sowie Gewerkschaften anders. Sie befürchten Leistungseinschränkungen und warnen vor einer Aushöhlung des Grundsatzes "ambulant vor stationär".
"Von den geplanten Verbesserungen profitieren längst nicht alle Menschen mit Behinderung gleichermaßen", kritisierte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Vielen drohe die Abschiebung in die Pflege. Auch der Sozialverband SoVD fordert Korrekturen. Ähnlich hatten sich zuvor bereits der Deutsche Behindertenrat, der Deutsche Gewerkschaftsbund und andere geäußert.
Kritik an Nahles' Entwurf
Sie werfen Nahles vor, mit ihrem Gesetzesvorhaben den Kreis der Leistungsbezieher einzuschränken. Dem Entwurf zufolge müssen Betroffene nachweisen, dass sie in fünf von neun Lebensbereichen dauerhafte Unterstützung benötigen. Dadurch könnten unter anderem Menschen mit psychischen Erkrankungen, die schubweise verlaufen, von der Förderung ausgeschlossen werden, befürchten Kritiker.
Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, will sich im parlamentarischen Verfahren für weitere Verbesserungen einsetzen. Es müsse unter anderem sichergestellt werden, dass auch künftig alle Menschen mit hohem Assistenzbedarf selbst entscheiden könnten, wo sie wohnen.
Für die Vorsitzende der Partei Die Linke, Katja Kippting, bleibt die gesellschaftliche Teilhabe der rund 7,5 Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland "eine Frage des Geldbeutels". Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Grünen im Bundestag, erklärte, finanziell entlastet würden vor allem die Menschen, die nur Eingliederungshilfe beziehen und weder blind noch schwerstpflegebedürftig seien.
Protestaktion in Berlin
Das Teilhabegesetz sorgte auch für eine Protestaktion vor dem Berliner Hauptbahnhof: Rund 20 Menschen im Rollstuhl ließen sich dort in einen Käfig sperren, um symbolisch auf Einschränkungen hinzuweisen (Artikelbild). Es könne Menschen mit Behinderung passieren, dass Ausgaben für die Hilfe in der eigenen Wohnung nur dann finanziert werde, wenn diese nicht teurer seien als im Heim, kritisierte der Initiator Ottmar Miles-Paul. Ein weiterer Streitpunkt ist die Barrierefreiheit. Deshalb hatte es schon im Mai Proteste in Berlin gegeben.
Ziel des Gesetzes ist es Nahles zufolge, dass behinderte Menschen selbstständiger leben, wohnen und arbeiten können. Zu den wichtigsten Verbesserungen zählen neue Regeln für die Anrechnung von Vermögen und Einkommen. In zwei Schritten werden die Vermögensfreibeträge auf 50.000 Euro erhöht. Bisher dürfen behinderte Menschen, die Eingliederungshilfe beziehen, nur 2.600 Euro sparen - und stehen damit schlechter da als Hartz-IV-Bezieher. Nahles sprach von einer "völlig veralteten und lebensfremden Regelung".
Ersparnisse werden nicht mehr angerechnet
Auch die Anrechnung eigener Einkünfte auf die Eingliederungshilfe wird verbessert, damit Berufstätige künftig mehr Geld in der Tasche haben werden. Das betrifft von den rund 700.000 Beziehern der Eingliederungshilfe etwa jeden Zehnten. Partner-Einkommen und Ersparnisse sollen ganz von der Anrechnung freigestellt werden. Bisher werden auch ihre Einkünfte herangezogen, sodass eine Ehe oder Lebenspartnerschaft mit einem behinderten Menschen finanziell mit massiven Nachteilen verbunden ist.
Schwerbehinderte sollen zudem durch einen 75-prozentigen Lohnkostenzusatz mehr Möglichkeiten erhalten, auch außerhalb von speziellen Werkstätten zu arbeiten. Zudem ist geplant, Assistenzleistungen auch für den Erwerb von höheren Studienabschlüssen zu ermöglichen.
Ba/rb (kna,dpa,rtr,afp)