Politik ist wie ein Berglauf
7. Oktober 2016DW: Bevor Sie in die Politik gingen, waren Sie eine sehr erfolgreiche Sportlerin: viermal Weltmeisterin als Biathletin und Skilangläuferin und insgesamt zwölf Siege bei den Paralympics. Jetzt sind Sie seit drei Jahren die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Inwieweit helfen Ihnen ihre persönliche Erfahrungen, einerseits mit ihrer eigenen Behinderung und anderseits als Sportlerin bei dieser Aufgabe?
Ich war als Sportlerin daran gewöhnt, für meine Erfolge viel zu trainieren und hart zu arbeiten. Ich habe gelernt, dass ich dann am meisten erreiche, wenn ich Ausdauer habe und für meine Ziele kämpfe. Das sind Dinge, die man in der Politik unbedingt braucht. Politische Prozesse sind vor allem langwierig, und man ringt oft schwer um Kompromisse. Das hat definitiv etwas von einem Berglauf.
Aus meinem persönlichen Alltag kann ich natürlich auch sehr viel mitnehmen, zum Beispiel, wie wichtig es ist, in einigen Bereichen Assistenz zu haben. Ich habe zwei Arbeitsassistentinnen, die mich wechselweise auf Termine begleiten, die mir sagen, wo ich hingehe, wo die Räume sind, wo ich die richtigen Ansprechpartner finde. Für mich ist es wichtig, dass mir jemand die Augen ersetzt. Andererseits kommt es vor, dass ich oft gar nicht selbst angesprochen werde, sondern meine Begleitung. Das ist natürlich befremdlich, weil es zeigt, wieviel wir im Bereich Bewusstseinsbildung noch tun müssen, um klar zu machen, dass Menschen mit Behinderungen gut für sich selber sprechen können und dass dies nicht andere für sie tun müssen. Das trifft jedenfalls auf viele Menschen zu.
Wo steht denn Deutschland im europäischen Vergleich in Bezug auf die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen?
Deutschland hat im Bereich Rehabilitation einen guten Stand im europäischen Vergleich. Bei uns gibt es für Menschen mit Behinderungen eine gute medizinische Betreuung. Menschen mit Behinderungen können auch an Arbeit teilhaben, noch nicht so, wie wir es uns im ersten Arbeitsmarkt wünschen, aber es gibt auch Werkstätten für behinderte Menschen. Das ist mit Sicherheit eine gute Sache für Menschen, die eine Struktur brauchen und am Alltag teilhaben wollen. Aber beim Thema inklusive Bildung, also der gemeinsamen Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen, belegt Deutschland definitiv keinen vorderen Platz. Da gibt es Länder wie Italien, Schweden, Norwegen, die uns deutlich voraus sind. Dort gibt es eigentlich kaum mehr spezielle Schulen für Menschen mit Behinderungen, sondern dort sind die meisten Kinder inklusiv beschult, und das finde ich einen guten Weg.
Es gibt andererseits auch die Meinung von Befürwortern der Förderschulen, dass Kinder mit besonders hohem Förderbedarf einen Schutzraum in reinen Förderschulen brauchen. Halten Sie das für richtig?
Es wird mit Sicherheit immer Kinder geben, für die es wichtig ist, in kleinen Gruppen zu lernen. Diese Option sollte es auch weiterhin geben. Mein großer Vorbehalt gegen eine separate Beschulung in Förderschulen ist jedoch folgender: Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen ohne Vorurteile und mit der gegenseitigen Akzeptanz und Toleranz der Bedürfnisse des anderen gemeinsam leben, und das fängt in der Schule an. Ich denke, es bringt uns als Gesellschaft weiter, wenn wir wirklich alle Kinder gemeinsam lernen lassen, und gleichzeitig dort, wo die Kinder und Jugendlichen zusammen sind, Möglichkeiten des Rückzugs und der individuellen Unterstützung schaffen. Dafür benötigen wir ausreichend sonderpädagogisches Personal an den allgemeinen Schulen.
Zurzeit ist das sogenannte "Bundesteilhabegesetz" in Arbeit, das die Stellung von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft deutlich verbessern soll. Es gibt aber auch Kritik, dass das Gesetz in verschiedener Hinsicht die Situation von Menschen mit geistigen Behinderungen verschlechtert. Unter anderem sollen Leistungen künftig nicht mehr individuell abrufbar sein, sondern gepoolt werden. Wie sehen Sie das?
Ein gutes Bundesteilhabegesetz braucht noch einige Veränderungen, damit es am Ende wirklich für die Menschen gut ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass Menschen nicht dazu gezwungen werden sollten, mit anderen gemeinsam zu wohnen. Jeder von uns möchte das Recht haben, sich selbst auszusuchen, ob wir in einer Wohnung alleinleben wollen, mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen, in einer Wohngemeinschaft mit vielen Menschen zusammen. Da hat jeder Mensch ganz eigene Vorstellungen, und das haben auch Menschen mit Behinderungen, und deswegen ist es für mich beispielsweise wichtig, dass wir Menschen nicht zwingen können, gemeinschaftlich Leistungen beim Bereich Wohnen oder im Bereich ihrer Freizeitgestaltung in Anspruch zu nehmen. Das gilt für alle Menschen mit Behinderungen. Da macht es keinen Unterschied, ob es sich um eine sogenannte geistige Behinderung handelt oder eine Sinnes- oder Körperbehinderung. Die Selbstbestimmung muss für alle gestärkt werden.
Damit lässt sich der Zwang, Leistungen gemeinschaftlich in Anspruch zu nehmen, nicht vereinbaren. Da muss sich das Gesetz deutlich ändern. Für mich gibt es noch einen anderen wichtigen Punkt: Es gibt viele Menschen, die Leistungen der sogenannten Eingliederungshilfe erhalten und Pflegeleistungen. Da gibt es die große Angst, dass Menschen mit Behinderungen in Zukunft nur noch Pflegeleistungen bekommen und keine Leistung zur Teilhabe. Das würde dann beispielsweise bedeuten, dass jemand, der 70 Jahre alt ist und erblindet, nicht mehr die Möglichkeit hätte, ein Orientierungstraining zu bekommen und sich nicht mehr alleine zurechtfindet. Jetzt bedeutet aber Teilhabe, dass die Person lernt, sich zu orientieren, Blindenschrift zu lesen, um weiterhin an der Kommunikation teilzunehmen. Das muss eben auch in dem gesetzlichen Rahmen dieser beiden Gesetze geregelt sein.
Welche Handhabe gibt es denn dann noch für Sie persönlich, um dieses Gesetz noch nachzubessern?
Mein schärfstes Schwert ist natürlich die Kommunikation, die Überzeugungsarbeit. Am Ende sind es dann die Abgeordneten, die ihre Hand für oder gegen das Gesetz heben. Ich bin sozusagen "Cheflobbyistin" der Menschen mit Behinderungen und bin jetzt vor allem auf Überzeugungstour für Nachbesserungen an dem Gesetz.
Sie waren diesmal nicht Teilnehmerin bei den Paralympischen Spielen, sondern als Zuschauerin und Politikerin vor Ort. Sind wir, global betrachtet, ein Stück weitergekommen in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Paralympischen Spiele?
Wir sind ein Stück weitergekommen in der Akzeptanz der Paralympics. Ganz wichtig finde ich beispielsweise, dass ein Organisationskomitee Olympische und Paralympische Spiele zusammen organisiert und dass es keine getrennten Komitees sind, die getrennte Organisationskreisläufe haben. Das ist super. Aber ich habe es absolut vermisst, dass die Brücke zwischen den beiden Veranstaltungen direkt gebaut wird. Die Olympischen Spiele sind zuendegegangen mit einer pompösen Abschlussfeier, und keiner hat auch nur mit einem einzigen Wort die anstehenden Paralympics erwähnt. Das finde ich ist eine absolut vertane Chance. Ich wünsche mir vor allem, dass es zukünftig gemeinsame Weltcups, Weltmeisterschaften und andere Wettkämpfe gibt für Menschen mit und ohne Behinderungen, damit wir stärker zusammenwachsen.
Verena Bentele ist frühere deutsche Biathletin, Skilangläuferin, vierfache Weltmeisterin und zwölffache Paralympics-Siegerin. Seit 2014 ist sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.
Das Gespräch führte Verica Spasovska.