Bei Anruf Oper
23. April 2012
"Hallo, ich würde gern Marilyn hören", teilt Vincenza Benedettino ihren Wunsch am Telefon im "HAU" mit, im Berliner Theater Hebbel am Ufer. Durch den Lautsprecher des Telefons ertönt nun ein Lied der Filmdiva, das auch andere Neugierige anzieht, als die Klänge bis zur Bar hinüberschallen.
Die Anwesenden sind Teilnehmer der Audio-Installation "Strangers in a Song", bei der professionelle Opernsänger für ihre Zuhörer auf recht unkonventionelle Weise auftreten: nämlich am Telefon. Die Idee dazu stammt von der deutschen Opernregisseurin Sibylle Polster und der US-amerikanischen Mezzo-Sopranistin Dylan Nichole Bandy. Für die beiden erkundet das Projekt die Beziehung zwischen Zuhörer und klassischem Repertoire auf neuartige und spielerische Weise.
Der Berliner Musik- und Opernkritiker Uwe Friedrich schätzt die Besonderheit, ein Telefon in den kreativen Prozess einzubinden und damit eine künstliche Distanz zwischen Sängern und Zuhören zu schaffen, um sie anschließend zu schließen. "Beim Telefonieren will man einer Person nahe sein, die eigentlich weit weg ist", sagt er. "Und in diesem Fall nutzt man es, um eine Lücke zu überbrücken, die beim normalen Hören klassischer Musik gar nicht vorhanden wäre. Man stellt die Dinge quasi auf den Kopf."
Ein ganz persönliches Konzert
Das "Strangers in a Song"-Projekt erregte beim "100 Grad Berlin Festival" in den drei zusammengeschlossenen Theatern des HAU nicht nur die Aufmerksamkeit der Kritiker, es gewann auch den Publikumspreis.
Sechs professionelle Opernsänger platzierten sich an ungewöhnlichen Orten des "HAU": in einem Kassenhäuschen im Foyer, in einem dunklen Raum nahe der Toiletten und sogar in einem Schaufenster. Jeder Sänger hatte ein bestimmtes Repertoire vorbereitet - zugeschnitten auf seine Person und den jeweiligen Auftrittsort. Musiklisten wurden neben den Telefonen ausgehängt, die die Besucher einluden, einen Sänger anzurufen und sich etwas aus dessen Repertoire zu wünschen.
Musik wurde dann auf unterschiedlichste Weise hörbar: Mal schnappten die Besucher im Vorbeigehen an einer Tür, hinter der ein Opernsänger agierte, Bruchstücke eines Liedes auf, mal lauschten sie einer Arie über den Lautsprecher des Telefons oder eben ganz intim, den Hörer dicht ans Ohr gepresst.
Rotlicht-Arien
"Ich stelle einen Charakter dar, der zeigt, wie sich eine Sängerin prostituiert", sagt Dylan Nichole Bandy. Sie steht in einem gewagten Outfit im Schaufenster des HAU 1-Gebäudes und erinnert an die Huren, die in Amsterdams Fenstern für sich selbst Reklame sitzen. Die US-Amerikanerin hat bewusst ein Gesangsrepertoire mit sexuellen Untertönen vorbereitet.
Zum Beispiel Ursulas Lied "Arme Seelen in Not" aus dem Disney-Film "Die kleine Meerjungfrau". Oder das "Seguidilla" aus "Carmen". "Diese Lieder beinhalten schon gewisse sexuelle Anspielungen", erklärt Bandy. "Aber es kommt auch auf die Darstellungsform und das Hineinschlüpfen in eine Rolle an – jeder Charakter hat seine ganz eigene Stimme."
Peinliche Momente
Eigentlich sind für die mitwirkenden Sänger klassische Arien angesagt, aber Bandys Lieder, darunter auch ein Marilyn Monroe-Klassiker, spiegeln die Vielfalt des Musikangebots im Katalog wider. Allerdings fühlen sich viele Besucher durch das ungewöhnliche Programm und die seltsamen Auftrittsorte etwas verunsichert.
"Anfangs wissen die Leute nicht, wie sie reagieren sollen: Manche lachen, manche halten den Atem an oder reagieren gar nicht", erzählt Dylan Nichole Bandy. "Manchmal sprechen mich auch Leute mitten im Lied an: Dann entsteht ein peinlicher Moment, in dem ich frage, ob ich jetzt weiter singen oder mich mit ihnen unterhalten soll. Ein Hörer hat sogar gefragt, ob nicht er mir was vorsingen solle."
Oper mal ganz hemdsärmelig
Für den Musikkritiker Uwe Friedrich haben die "Strangers in a Song"-Darbietungen nicht viel mit echter Operzu tun. Dennoch beleuchteten sie die Art und Weise, wie Zuhörer mit dem Genre umgehen. "Vor allem in Deutschland pflegt man einen pseudo-religiösen Umgang mit der Oper. Die Zuhörer sind beim Opernbesuch fast so ehrfürchtig wie in einer Kirche", so Friedrich. "Die ganze Zeit schweigt man und denkt über die tiefere Bedeutung dessen nach, was der Künstler uns sagen will."
Gerade weil das Berliner Projekt diese Einstellung hinwegfegt und die Oper nahezu hemdsärmelig und unprätentiös präsentiert, kommt es bei Friedrich und anderen Besuchern gut an. "Im normalen Leben hört man diese Leute nicht singen, nur auf großen Bühnen", meint eine Besucherin. "Dort ist man Teil einer großen Zuhörerschaft, und hier kommt der Gesang sehr persönlich rüber, das finde ich toll."
Mancher empfindet den Kontakt zum Sänger sogar schon als zu persönlich. Aber glücklicherweise kann man hier dann einfach den Telefonhörer auflegen und muss sich nicht mitten im Akt vorbei an vollen Sitzreihen aus der Oper schleichen.