Junge Frau hilft Explosionsopfern
15. August 2020Mit zittriger Hand streckt Wadiha Butros Keries die leere Medikamentenpackungen in die Luft: "Ich kann mir keine neuen Medikamente mehr für meinen schwerkranken Mann leisten", sagt die 84-Jährige weinend. Neben ihr sitzt ihr 80-jähriger Mann Rizik Shendi auf einem Plastikstuhl und starrt mit tränenunterlaufenen Augen und einem Verband um den Kopf ins Leere. Ein Gegenstand hat ihn bei der Explosion in Beirut am Kopf getroffen. Er hat Alzheimer, Typ-1-Diabetes und ist dringend auf Medikamente angewiesen. In der Tür steht Cyrine Farhat und beobachtet die Szene. Bei sich trägt sie eine grüne Kühltasche sowie eine Blutzuckermessgerät. Sie geht auf das ältere Paar zu und überreicht Wadiha einen stiftgroßen Gegenstand - das dringend benötigte Insulin für ihren Mann.
Cyrine Farhat ist keine Ärztin. Sie ist eine junge Libanesin, die selbst an Diabetes Typ-1 erkrankt ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen in Not helfen. "So etwas wie einen Staat gibt es hier nicht. Es gibt keine Regierung. Wir unterstützen uns alle gegenseitig - so können wir überleben", sagt sie, als sie das Haus des älteren Paares verlässt.
"Gegenseitig helfen, um zu überleben"
Cyrine ist 28 Jahre alt, Unternehmensberaterin - und eine unter tausenden jungen Libanesen, die sich nach der Explosion in Beirut auf die Straße begeben, um den Menschen zu helfen. Im Juni 2019 hat sie ihre eigene NGO unter dem Namen "Positive on Glucose" gegründet, um Menschen, die an Diabetes erkrankt sind, zu unterstützen - aber auch, um über die Krankheit aufzuklären. Aufgewachsen ist die 28-Jährige in einem der Schiiten-Viertel im Süden Beiruts, die als Hisbollah-Hochburg gelten.
Cyrine ist selbst Schiitin, sieht sich politisch jedoch als neutral. Es sei ein "stereotypes Denken", davon auszugehen, dass sie aufgrund ihrer Konfession und ihrer Herkunft automatisch Unterstützerin der Partei sei. Dieses Klischee bereitet ihr vor allem bei der Verteilung ihrer medizinischen Produkte von Zeit zu Zeit Probleme, weshalb sie ihre Herkunft oft unerwähnt lässt. Sie habe bereits die Erfahrung gemacht, dass Menschen Angst vor ihr haben, wenn sie ihnen ihre Konfession nennt.
Als die Explosion am Hafen in Beirut geschah, saß Cyrine gerade mit ihrem Mann auf dem Sofa. "Zuerst dachten wir, es sei ein Erdbeben - und im nächsten Moment, dass es ein Angriff Israels sei." Die Angst vor einem Militärschlag des Nachbarlandes ist groß, die Erinnerungen an den Libanonkrieg von 2006 sind bei der jungen Frau noch tief verankert. Nur knapp habe sie damals diesen Krieg unbeschadet überlebt, erzählt sie, die Häuser in ihrer Nachbarschaft seien alle zerstört worden.
Und jetzt wieder überall Bilder der Zerstörung, verursacht durch die Explosion. Sie wecken in der jungen Frau vom ersten Moment an das Gefühl, sofort helfen zu wollen. Auf Instagram findet sie eine Gruppe junger Libanesen, die warme Mahlzeiten zubereiten und an Menschen in Not verteilen. Sie schließt sich sofort an. Cyrine sagt, für sie sei es selbstverständlich, dass man sich in schweren Zeiten gegenseitig unterstützt, unabhängig von Konfession oder Herkunft. Das Handy der umtriebigen jungen Frau steht nie still. Während der Fahrt in die Stadt erhält sie einen Anruf: Jemand möchte ihrer NGO 500.000 libanesische Pfund (derzeit rund 85 Euro) spenden, um weitere Blutzuckermessgeräte und Insulin kaufen zu können. "Yes!", schreit sie vor Glück.
"Die Zivilgesellschaft füllt eine große Lücke in der medizinischen Versorgung unseres Landes, während das politische System versagt", sagt Ghassan Hasbani, ehemaliger libanesischer Vizepremier und Gesundheitsminister, im Gespräch mit der DW. Die Detonation habe eine Gesellschaft getroffen, die schon vorher tief in der Krise gesteckt habe. Das Einkommen der Bürger sei gering, die Arbeitslosigkeit liege bei 30 Prozent, mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze, so der Ex-Minister.
Hasbani, der bis vergangenen Januar selbst Teil der Regierung war, spricht vom "Szenario eines gescheiterten Staates". Vor diesem Hintergrund sei der Einsatz der Zivilgesellschaft von besonderer Bedeutung. Viele Krankenhäuser seien schwer beschädigt und könnten nur durch internationale Hilfe am Laufen gehalten oder wiederhergestellt werden.
Auch Cyrine will mit ihrer Arbeit versuchen, solche Lücken zu schließen - zumindest bei der Versorgung mit Medikamenten. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement möchten sich inzwischen sogar verschiedene politische Gruppierungen des Establishments zu eigen machen. Cyrine berichtet, sie habe schon Anfragen von Parteien erhalten, ob sie nicht das "schiitische Gesicht" sein wolle, das sich konfessionsübergreifend für deren Zwecke engagiert. "Das sind alles Mistkerle", sagt sie wütend.
"Wir werden es schaffen"
Wie Cyrine wissen viele Libanesen, dass ihr Land grundlegende Veränderungen benötigt, um sich weiterzuentwickeln. Als im Oktober 2019 die Demonstrationen gegen die Regierung in Beirut beginnen, ist Cyrine im siebten Monat schwanger und voller Hoffnung. Sie wünscht sich eine bessere Zukunft für ihre Tochter. Einen Staat und Menschen, die unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft zusammenleben, und eine Regierung, die an die Bevölkerung denkt - und nicht an Selbstbereicherung. Als die Demonstrationen später jedoch abflachen und Cyrine feststellt, dass doch wieder alle politischen Beteiligten in ihre alten Muster verfallen, verliert sie vorerst die Hoffnung auf einen politischen Umschwung in dem Land, das sie mit patriotischer Hingabe liebt.
Das durch jetzt erneut entflammte Engagement stimmt sie positiv. "Ich weiß, dass wir es irgendwann schaffen werden. Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Wir brauchen Zeit. Aber wir schaffen es." Mittlerweile sind Cyrine die Politiker gleichgültig. Sie sieht sie als diejenigen, die ihr und anderen das Leben erschweren und Energie rauben. Darüber hinaus tragen sie ihrer Meinung nach auch Schuld am Tod ihrer ungeborenen Tochter. "Sie starb wegen eines medizinischen Fehlers in einem korrupten System." Der Schmerz darüber sitzt immer noch tief, doch auch dieser traurige Verlust bestärke sie heute in ihrem Tun, sagt Cyrine.
"Handeln macht einen Unterschied"
"Cyrine can do", so heißt Cyrine Farhats Account auf Instagram. Und tatsächlich kann sie und macht sie. Cyrine bewegt Dinge, weil sie nicht locker lässt. Am Telefon erzählt sie ihren Freunden von dem älteren Paar, dass sie am Morgen besucht hat. Sie weiß, dass Wadiha und Rizik auf dauerhafte Unterstützung angewiesen sind. Auf eine Krankenschwester, die sie regelmäßig besucht und pflegt. Daher startet sie spontan gemeinsam mit ihren Freunden einen Spendenaufruf und weint am Abend beinahe vor Glück, als sie erfährt, dass bereits eine Krankenschwester gefunden wurde. Das mache sie glücklich. "Mein Handeln hat heute einen Unterschied gemacht“, sagt Cyrine noch, als sie sich aufmacht, um weitere Medikamente abzuholen, die sie in den kommenden Tagen verteilen wird.