Beklemmende Friedenspreis-Rede
13. Oktober 2013Für Swetlana Alexijewitsch ist Leben gleich Lesen - oder ist es umgekehrt? Sie gehöre zur Generation, die "von Büchern, nicht von der Realität" erzogen wurde, hat sie einmal gesagt. Dieser Generation begegnet man auch in ihrem jüngsten Buch "Secondhand-Zeit". Darin lässt sie Menschen zu Wort kommen, die ihr erzählt haben vom Leben auf den Trümmern der untergegangenen Sowjetunion, von gescheiterten Träumen und zerbrochenen Biographien. Welche existentielle Bedeutung Bücher für ihre Generation einmal hatten, können sich im Westen nur die wenigsten vorstellen. Da gab es Küchengespräche über den Dichter Mandelstam, Suppekochen mit einem Roman in der Hand. Doch Swetlana Alexijewitsch weiß auch, dass das alles seit dem Ende der Sowjetunion nichts mehr zählte: "Worte bedeuteten nichts mehr."
Publikum im Messe-Fieber
Dennoch: Menschen, die ohne Literatur nicht leben wollen, gibt es ganz offensichtlich auch in einer Welt, in der Bücher als Ware hektisch auf den Markt geworfen werden. Und es scheint, als habe die Frankfurter Buchmesse, die größte der Welt und der wichtigste Umschlagplatz für Lizenzen, in diesem Jahr den Leser wiederentdeckt. Mit mehr Veranstaltungen als je zuvor, 3500 an der Zahl, rund 700 pro Tag. Mehr als genug Gelegenheit auch für das Publikum, sich vom Messe-Fieber anstecken zu lassen, das die Branchenprofis Jahr für Jahr befällt.
Zum Beispiel rund um die "open stage", eine neue Veranstaltungsfläche mit Marktplatz-Charakter draußen zwischen den überquellenden Messehallen. Und die jüngsten Bücherwürmer durften sich erstmals im "Kids Bubble" tummeln, einem kugeligen Zelt, das im Halbstundentakt mit neuen Vorlese-Abenteuern lockte - passend zum Messeschwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur. Geduldig standen sie Schlange: der Andrang war so groß, dass zeitweise niemand mehr eingelassen wurde.
Topographie des Todes
Während sich die Messe auf der Jagd nach Trends und Ideen permanent erneuert, bleibt ihr feierlicher Abschluss seit über sechs Jahrzehnten unangetastet: die Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche. Von Buchhändlern ins Leben gerufen, haben dieser Preis, die dort Ausgezeichneten und ihre Reden seit dem ersten Jahrgang 1950 immer wieder intellektuelle Debatten ausgelöst, mit mutigen, streitbaren und mitunter auch umstrittenen Preisträgern.
Zu den mutigsten dürfte Swetlana Alexijewitsch zählen, die als Journalistin und Schriftstellerin immer wieder den Finger in die Wunden der sowjetischen Geschichte legt. 1948 in der sowjetischen Ukraine geboren, wuchs sie im ebenfalls sowjetischen Weißrussland auf, das von Verwüstung und Entvölkerung gezeichnet war: Im Zweiten Weltkrieg war ein Drittel der Bevölkerung umgekommen. "Diese Topographie des Todes und des Kampfes ums Überleben", so der Historiker Karl Schlögel in seiner Laudatio, war der jungen Journalistin vertraut. Und sie bestimmte ihre Arbeit auch als Schriftstellerin. "Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch", erklärte Swetlana Alexijewitsch in ihrer Dankesrede, "an einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg… Tschernobyl… der Untergang des 'roten Imperiums'."
Sandkorn der Geschichte
Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft prägten - und von denen westliche Nachkriegs-Generationen gerade mal den atomaren GAU zur Kenntnis nahmen. Andere Katastrophen hinter dem Eisernen Vorhang wurden oft ausgeblendet. Alexijewitsch bringt sie ans Tageslicht. "Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab", konstatierte sie in der Paulskirche, "in meinen Büchern erzählt der 'kleine Mensch' von sich. Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird."
So wie in ihren Büchern montierte sie auch in ihrer Rede Splitter der Geschichte zusammen - detailgenau und scharfkantig. So wie diese Beobachtung in Kabul 1988: "Eine junge Afghanin, ein Kind auf dem Arm. Ich gehe hin und reiche dem Kind einen Plüschteddy und es nimmt ihn mit den Zähnen. 'Warum nimmt er ihn mit den Zähnen?' frage ich. Die Afghanin reißt die dünne Decke herunter, in die der Kleine eingewickelt ist, und ich sehe einen kleinen Rumpf ohne Arme und Beine. 'Das haben deine Russen gemacht'. 'Sie versteht nicht', erklärt mir ein sowjetischer Hauptmann, der daneben steht, 'wir haben ihnen den Sozialismus gebracht.'"
In die Hölle hinabgestiegen
Kaum weniger erschreckend die Schlaglichter auf die Geschichte der jüngeren Zeit, gesammelt nach dem Ende der Sowjetunion. "Umfragen zufolge sind die Menschen für Stalin, für eine 'starke Hand' und für den Sozialismus. Das Ende des 'roten Menschen' ist aufgehoben", sagt Alexijewitsch. "Ein alter KGB-Mann erklärte mir gegenüber im Zug ganz offen: 'Ohne Stalin geht bei uns nichts. Was ist der Mensch? Ramm ihm ein Stuhlbein in den Hintern, und er ist kein Mensch mehr. Nur noch physisch. Ha-ha.' Das hatte ich schon mal gehört."
Eine bewegende, schonungslose Rede, die das Publikum aus der Paulskirche sichtlich beklommen wieder in den Trubel der letzten Messestunden entließ, dorthin, wo Verlage und Buchhändler am Sonntagmittag erste positive Bilanzen zogen und sich mit der Resonanz zufrieden zeigten. Doch es gehört zum unverwechselbaren Gesicht der Frankfurter Buchmesse, dass sie nicht nur aus Erfolgszahlen besteht, sondern ein intellektuelles Forum darstellt. Ein Satz der Friedenpreisträgerin wird lange in Erinnerung bleiben: "Manchmal frage ich mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin. Um die Menschen zu finden."