Berlin schweigt zu "Sofagate"-Eskalation
10. April 2021Die Bundesregierung will sich weder zur Sitzordnung beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan noch zur Kritik des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi am Gastgeber in Ankara äußern. "Protokollarische Fragen kommentiere ich an dieser Stelle nicht", sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer in Berlin. Sie verwies auf vorangegangene Reaktionen der Europäischen Union.
Zu einer Formulierung Draghis, der von "diesen, nennen wir sie (...) Diktatoren", gesprochen hatte, sagte Demmer, man habe das "zur Kenntnis genommen". "Wie Sie wissen, kommentieren wir ja ganz grundsätzlich einzelne Äußerungen von Staats- und Regierungschefs nicht", fügte sie hinzu. Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, der jetzt die Regierung in Rom führt, hatte die inzwischen als "Sofagate" bekannte diplomatische Affäre durch die unschmeichelhafte Titulierung zusätzlich befeuert.
"Auf die Geschichte Italiens schauen"
Die Türkei bestellte den italienischen Botschafter ein. Außenminister Mevlüt Cavusoglu verurteilte auf Twitter Draghis "hässliche und maßlose" Worte aufs Schärfste. Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun erklärte in Anspielung auf die Zeit des Faschismus unter Benito Mussolini im 20. Jahrhundert: "Wenn Mario Draghi einen Diktator sucht, soll er auf die Geschichte Italiens schauen."
Angefangen hatte alles mit einem fehlenden Stuhl: Als die beiden EU-Spitzen am Dienstag als Gäste Erdogans Platz nehmen wollten, fiel plötzlich auf, dass für Ratspräsident Charles Michel - ebenso wie für den türkischen Staatschef - ein vornehmer Sessel mit Armlehnen bereitstand, für Kommissionschefin Ursula von der Leyen jedoch nicht. Sie setzte sich nach kurzer Irritation auf ein Sofa, genau wie Cavusoglu, also der Rangniedere der beiden Gastgeber, dem exakt gegenüber ein ebensolches Möbelstück zugewiesen war.
"Das Bild ist komplex"
Die EU-Kommission hatte sich zunächst darüber empört. Michel sprach später von einer engen Auslegung protokollarischer Regeln durch die Türkei. Hintergrund sind der EU-Vertrag und eine Vereinbarung der Protokollchefs der Institutionen, wonach der Präsident des Europäischen Rats den Status eines Staatsoberhaupts und der Kommissionspräsident den eines Regierungschefs innehat.
Nach Draghis Äußerung ließ der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schließlich mitteilen, es sei "nicht Sache der EU, ein System oder eine Person zu kategorisieren". Das Bild sei komplex, so ein Sprecher. Es gebe Zusammenarbeit mit der Türkei, aber auch manche Sorgen mit Blick auf Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und angesichts des Zustandes der Justiz.
"Fakten klar und ehrlich benennen"
Dagegen stellte sich CSU-Vize Manfred Weber, der auch die christdemokratische Fraktion im EU-Parlament führt, an die Seite Draghis. Dieser habe Recht: "Unter der Führung von Präsident Erdogan hat sich die Türkei in den vergangenen zehn Jahren von Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechten entfernt." Falls Europa mit solchen Ländern eine konstruktive Partnerschaft wolle, müsse man die Fakten vor Ort klar und ehrlich benennen. Deshalb fordere er auch seit Jahren ein Ende der Verhandlungen über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei.
Konservative und Sozialdemokraten als größte Fraktionen im Europaparlament wollen die "Sofagate"-Affäre nicht einfach aussitzen. Sie verlangen eine Plenarsitzung mit von der Leyen und Michel. Beide müssten klarstellen, "was passiert ist und wie die Institutionen zu respektieren sind", sagte die sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Iratxe García Pérez. Die Beziehungen zur Türkei seien "wesentlich". "Aber die Einheit der EU und der Respekt vor Menschenrechten einschließlich Frauenrechten sind auch zentral."
jj/ml (dpa, afp)
Korrektur am 10.04.2021: In einer früheren Version dieses Artikels wurde die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer versehentlich als stellvertretende Regierungschefin bezeichnet. Dies wurde korrigiert. Die Redaktion bittet den Fehler zu entschuldigen.