Berlin und Brüssel gegen Ankara
4. September 2017Der Beitritt der Türkei zur EU gilt vielen als gescheitert. Nun haben auch die beiden deutschen Kanzlerkandidaten klargemacht, dass sie das Ende der Verhandlungen anstreben. Die Erosion des Rechtsstaates in der Türkei in den letzten zwölf Monaten seit dem gescheiterten Militärputsch hatte zunächst bei den deutschen Sozialdemokraten zu einer Kehrtwende geführt.
Noch im April äußerte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) die Hoffnung, dass die Türkei ein Beitrittskandidat bleiben könnte. Doch nach massiven Angriffen aus Ankara im August gab Gabriel alle Bemühungen auf, die EU-Perspektive der Türkei aufrecht zu erhalten. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz, vormals ein glühender Verfechter des EU-Beitritts der Türkei, hat den Schritt nachvollzogen. In der Fernsehdebatte am Sonntag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert der Herausforderer konsequent ein Ende der Beitrittsverhandlungen mit dem renitenten Präsidenten Erdogan.
Nach kurzem Zögern dann machte sich auch die Bundeskanzlerin diese Forderung zu eigen. Damit hat sie erstmals ausgesprochen, was seit Monaten offensichtlich ist: "Einen Beitritt der Türkei kann es nicht geben."
Ende der Verhandlungen absehbar
Die Entscheidung darüber obliegt der EU. Doch auch dort hat der Ansatz prominente Befürworter: Bereits im Juli, beim letzten Treffen des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu mit der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in Brüssel, war klar: Es geht nicht mehr weiter.
Am Dienstag der vorigen Woche dann stellte EU-Kommissions-Chef Jean-Claude Juncker in einer Rede in Brüssel fest, die Türkei entferne sich in Riesenschritten von Europa. Zwar warnte er, Erdogan bekomme damit eine Steilvorlage, fälschlicherweise die EU für das Scheitern verantwortlich zu machen. Klar sei aber auch, dass die Türkei der Union so niemals beitreten könne.
Theoretisch kann der Ministerrat der EU schon beim Treffen der Außenminister am Wochenende oder beim Gipfeltreffen Ende Oktober beschließen, was wohl nicht mehr zu vermeiden ist: Nach zwölf Jahren schlägt die EU die Tür für die Türkei wieder zu.
Dann wird es auch möglich, die Auszahlung von Beihilfen an die Türkei zur Heranführung an die EU komplett zu streichen. Das war bislang aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Allerdings hat die EU seit 2013 nur einen kleinen Teil dessen gezahlt, was haushaltstechnisch möglich gewesen wäre.
Keine ernsthaften Versuche
Das es so gekommen ist, kann niemanden überraschen: Die Türkei hat die Beitrittskriterien nie erfüllt, die in den Europäischen Verträgen festgelegt sind. Und sie hat auf absehbare Zeit auch keine Aussichten, sie zu erfüllen. Der Umbau des türkischen Staates zu einer Autokratie, der im Verfassungsreferendum vom April beschlossen wurde, macht einen Beitritt zur Gemeinschaft der europäischen Demokratien unmöglich. Das bescheinigen der Türkei die Gutachten der Verfassungskommission des Europarates und die Berichte zu den "Fortschritten" der Türkei, die regelmäßig von der EU-Kommission vorgelegt werden.
Der Abbruch der Beitrittsgespräche von Seiten der EU, übrigens ein Novum in der Geschichte, wäre nur ein symbolischer Schritt. Denn praktisch liegen die Verhandlungen schon seit letztem Dezember auf Eis, als der Ministerrat beschloss, keine Verhandlungskapitel mehr zu öffnen.
Eigentlich haben die Verhandlungen in den letzten zwölf Jahren zu keinem Ergebnis geführt. Kein einziges Verhandlungskapitel konnte je geschlossen werden, weil sich die Türkei zwölf Jahre lang beharrlich weigerte, das EU-Mitgliedsland Zypern anzuerkennen, dessen Nordteil sie nach wie vor militärisch besetzt hält. Allein diese Tatsache zeigt, dass es die Türkei nie richtig ernst meinte hat mit dem Beitritt zur EU.
Enttäuschte Hoffnungen
2005 waren vor allem sozialdemokratische Regierungs-Chefs hoffnungsfroh, man könnte den damals europafreundlich agierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in den Klub aufnehmen.
Als Merkel dann im November 2005 das Kanzleramt von ihrem SPD-Vorgänger Gerhard Schröder übernahm, erbte sie die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Als Oppositionsführerin hatte sie sich gegen deren Aufnahme ausgesprochen, ihre Partei erfand für die Türkei damals die "privilegierte Partnerschaft".
Merkel hat Recht behalten: Die Hoffnung auf eine echte Annäherung der Türkei an die EU trog, Erdogan entwickelte sich immer weiter weg von den Werten der Staatengemeinschaft.
Nicht das Ende aller Politik
Doch auch bei einem Ende der Betrittsverhandlungen bleiben EU und Türkei politisch und wirtschaftlich eng verbunden. Die EU möchte unbedingt das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei weiter umsetzen. Auch die Bundesregierung braucht Gesprächskanäle nach Ankara - allein, um sich um mehr als 50 deutsche Staatsbürger kümmern zu können, die in türkischen Gefängnissen sitzen.
Die Türkei möchte ihrerseits die für sie lebenswichtige Zollunion mit Europa behalten und sogar ausweiten. Mit der Zollunion hat die EU ein wichtiges Faustpfand in der Hand. Auch in Sicherheitsfragen - zum Beispiel bei der Bekämpfung von islamistischen Terroristen und im Militärbündnis NATO - werden europäische Staaten und die Türkei zusammenarbeiten wollen und müssen.
Allerdings sondiert die Türkei bereits ihre Alternativen - etwa in der Sicherheitspolitik: Die Russen könnten der Türkei neben Energie auch Waffen wie Raketensysteme liefern, befürchten Analysten in Brüssel. Noch rüttelt Erdogan zwar nicht an der Mitgliedschaft in der NATO, doch sein Verhältnis zur Trump-Regierung in Washington ist angespannt.
Das Aufkündigen der Beitrittsgespräche mit der EU ist nicht das Ende der Türkeipolitik, sondern nur ein schmerzhafter Einschnitt. Klar ist jetzt: Die Türkei ist kein europäischer Staat mehr nach Artikel 49 des EU-Vertrages, dem ein Beitritt zur Union unbedingt offenstehen müsste.
Die harte Haltung gegenüber der Türkei könnte für andere Beitrittskandidaten auf dem Balkan eine Lehre sein. Wenn Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien oder Kosovo sich nicht an die Regeln halten, ist auch der Prozess ihrer Annäherung an die EU umkehrbar.