Berlins Friedhöfe
28. Oktober 2015Ein lauwarmer Herbsttag im Bezirk Neukölln – die perfekte Gelegenheit, um ein paar historische Begräbnisstätten näher kennenzulernen. Ich treffe mich mit Boris von Brauchitsch, Kunsthistoriker, bibelfester Atheist und Autor eines sehr amüsanten Reiseführers durch Berlins Totenreich. Wir ziehen los an der längsten Friedhofsmeile der Stadt, einer 2,6 Kilometer langen Strecke mit acht Friedhöfen, vom Hermannplatz hinauf zur Autobahn.
Der Tod in Berlin
Das Warum-hier ist schnell geklärt: Seit 1794, erzählt Brauchitsch, mussten aus hygienischen Gründen Leichname außerhalb der Stadt beigesetzt werden, und hier am Hermannplatz sei eben damals die Stadtmauer gewesen. Wir gehen zuerst durch den Alten Friedhof St. Jacobi, eröffnet 1852. Einen verwinkelten, bemoosten Gottesacker, wie man ihn aus der Spätromantik kennt, mit hübsch verwitterten Gräbern und Mausoleen.
Hier seien die schmiedeeisernen Einfriedungen noch gut erhalten, sagt der Friedhofsexperte an einer Stelle. Das sei nicht immer der Fall. Am Ende des Zweiten Weltkrieges habe man aus der Not oft die eigenen Toten beraubt. So wird klar: Friedhöfe erinnern nicht nur an die Verstorbenen, sondern tragen die Spuren der Geschichte selbst zur Schau. Und jede Menge Engel. Egal in welchem Zeitalter, so Brauchitsch, Engel stünden immer hoch im Kurs.
Friedhofparks als Ausflugsziele
Je weiter wir uns von der alten Stadtgrenze entfernen, umso neuer und großzügiger werden die Begräbnisstätten. Die Friedhöfe St. Michael und St. Thomas an der U-Bahn-Station Leinestraße sind abgezirkelt rechteckige Parks, geteilt durch breite Alleen. Hier habe das aufstrebende Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts seine letzte Ruhe gesucht, erzählt Brauchitsch, außerdem seien solche Areale populäre Ausflugsziele gewesen. Nach dem Muster: Erst der toten Tante X die Ehre erweisen, dann schön Picknick machen.
Das mag frevelhaft erscheinen, aber in Berlin wurde mit dem Tod nie zimperlich umgegangen. Wer einen Platz im Friedhof mit ewigem Frieden gleichsetzt, der irrt sich gewaltig. Die Belegungsfrist betrage gegenwärtig nur 20 Jahre, klärt Brauchitsch auf, danach müssten die Verwandten noch mal blechen, sonst werde man ausgeschart. Das trifft auch Promis, wie den verruchten Varieté-Star Anita Berber, einst porträtiert von Otto Dix, deren Überreste vom St. Thomas-Friedhof entfernt wurden. Ein unerfreuliches Schicksal. Dass es durchaus Schlimmeres gibt, zeigt aber unsere nächste Station.
Fromme Unmenschlichkeit
Auf der anderen Seite der Hermannstraße befinden sich ganz hinten auf dem Friedhof der Jerusalems- und Neuen Kirche V die Fundamente einer Baracke. Hier, erzählt Brauchitsch, seien osteuropäische Zwangsarbeiter einquartiert worden, die die Friedhofsarbeit der Kirchgemeinden in den letzten Jahren des Krieges verrichtet hätten. Eine schauderhafte Vorstellung. Der Gottesacker liegt direkt neben dem Flughafen Tempelhof. Die Arbeitssklaven, die auf dem Friedhof lebten, waren also den alliierten Bombardements schutzlos ausgeliefert. Nicht gerade christlich.
Ironischerweise ist dieser Friedhof selbst in seiner Existenz bedroht. Da die Sterblichkeitsrate zurückgeht und immer mehr Deutsche sich einäschern lassen, sinkt der Berliner Bedarf an Platz für Ruhestätten dramatisch. Die Aussicht, dass solche Flächen mitten in der Stadt entweiht und auf den freien Markt gestellt werden könnten, lässt Spekulanten sich die Hände reiben. Eine nicht mehr abzuwendende Entwicklung vielleicht, dennoch eine, die ich sehr schade finde. Denn, wie ich an diesem Nachmittag gelernt habe, erscheint die Geschichte Berlins in ihren Höhen und Tiefen selten so lebendig wie auf seinen vielen verwunschenen Friedhöfen.