Die Schwere der Berlinale
15. Februar 2013Linda hat einen angeborenen Herzfehler, Won-Gyu ist Opfer einer homophoben Prügelattacke geworden, eine Gruppe Jugendlicher hat ein bewusstloses Mädchen vergewaltigt. Kurzweilige Geschichten klingen anders, aber kurzweilig will die Berlinale auch nicht sein. Schließlich steht hier das Leben auf dem Programm. Beziehungsweise die Facetten des Lebens, die man in Lifestyle-Magazinen vergeblich sucht. Tatsächlich kann man sich in diesen zehn Kinotagen (07.-17.02.2013) auf eine Weltreise der besonderen Art begeben. Denn Station gemacht wird nur an Orten, an die sich garantiert kein Pauschaltourist verirrt.
Lebloses Leben in Kairo
Ägypten, am Stadtrand von Kairo. Draußen brodelt das Leben, drinnen riecht es nach Alter, Krankheit und Stillstand. Soad bezieht das Bett des Vaters, cremt seinen durchgelegenen Rücken ein, hält ihm Brot vor den fest verschlossenen Mund. Ihre Mutter dämmert auf dem Sofa vor sich hin, ist mürrisch und schmallippig. Sie hat nachts gearbeitet. Einen Tag lang klebt die Kamera an Soad und ihrem Leben im Stillstand, einen Abend lang begleitet sie die nicht mehr ganz junge Frau bei ihrem kurzen Ausbruch in die Stadt. Und zeigt, dass, wer ins Leben hinaustritt, noch längst nicht zu leben beginnt. "Al-khoroug-lel-nahar" heißt das beeindruckende Debut der ägyptischen Filmemacherin Hala Lotfy.
Verkehrte Welt in Jordanien
Jordanien 1967. Ein Flüchtlingscamp. Staub, Enge, schleimiges Essen. Und Tarek, elf Jahre alt, mit seiner Mutter. Er hasst das Camp und die Geduld der anderen, er will nach Hause, nach Palästina und zu seinem Vater, bricht aus und landet bei Rebellen. Die Männer tragen Bärte, lange Haare und Waffen. Sie trainieren hart für den Kampf. Aber sie kochen auch zusammen, singen rebellische Lieder und kümmern sich rührend um den eigensinnigen Jungen. Seine Mutter treibt Tarek zunächst in die Verzweiflung, dann, als sie ihn endlich gefunden hat, immer mehr hin zu dem Gefühl, dass es Hoffnung auf Veränderung gibt. Eine verkehrte Welt, in der ein Kind eine Erwachsene an die Hand nimmt. "lamma shoftak" ist der zweite Spielfilm von Annemarie Jacir. Sie ist eine der wenigen palästinensischen Filmemacherinnen.
Indonesien: Im Würgegriff des Albtraums
Indonesien, zwischen gestern und heute. Anwar wird seit Jahrzehnten von Alpträumen geplagt. Wenigstens das. Anwar ist ein Massenmörder. Er war einer von denen, die nach dem Militärputsch 1965 Jagd auf angebliche Kommunisten gemacht haben. Von einer Million Toten ist die Rede. Anwar gibt mit seinen perfiden Taten bis heute an. Im Gefängnis war er nie. Wie viele andere Täter auch nicht. Der amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer hat drei von ihnen vor die Kamera geholt, für seinen Film "The Act of Killing" und ein ungewöhnliches Experiment: die gepflegten Lebemänner inszenieren ihre Taten von damals, setzen sich Hüte auf wie Gangster in Gangsterfilmen (wobei "Gangster" in Indonesien "freier Mann" bedeutet) und reden noch heute alles klein und weg. Bis Anwar eine Drahtschlinge um den Hals gelegt wird, von der Art, die er selbst besonders oft zum Töten benutzt hat. Weil es schnell ging, ohne viel Blutvergießen. Da bekommt er unvermittelt Krämpfe, muss würgen. Das Böse ist ein Albtraum.
Verstörende Schwere
Neuseeland: Adrian, zehn Jahre alt. Seine Mutter hat ihn verlassen, der Onkel ist depressiv, die Großmutter überfordert. Und die Bilder, mit denen Regisseur Daniel Joseph Borgman Andrians Geschichte von Isolation und Flucht in Fantasiewelten erzählt, sind von verstörender Schwere. "The Weight of Elephants" heißt sein Film.
Berlinale als Ausnahmezustand
Während der Berlinale ist für die Besucher vieles anders. Ungesunde Ernährung vom Imbiss, langes Anstehen nach Tickets und vor dem Einlass, stundenlanges Sitzen in dunklen Sälen. Man geht auch nicht zusammen mit Freunden ins Kino. Sondern meistens alleine. Und trifft dann vielleicht zufällig jemanden. Kollegen, Leute, die man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Oder man kommt mit Menschen, die man gar nicht kennt, ins Gespräch. Einfach so und oft ziemlich schnell. Eigentlich ist das eine der schönsten Begleiterscheinungen der Berlinale. Denn wenn der Film dann läuft, leidet man gefühlt zusammen an den Monstrositäten, die das Leben auf der Leinwand so anbietet - den gewöhnlichen Wahnsinn in einer polnischen Anstalt, die Diskriminierung von Schwulen und Lesben in Kamerun, unzumutbare Arbeitsbedingungen in Russland.
Dekadenz und Armut in Mexiko
Und manchmal, ganz manchmal, kann man auch zusammen kichern. Bei "Workers“ aus Mexiko war das so, einem dieser in diesem Jahr typischen Filme, mit großer Ruhe erzählt und vielen langen, oft standbildartigen Einstellungen. Dabei beginnt José Luis Valles Film ganz ernsthaft, erzählt von einem Putzmann, dem nach 30 Jahren zuverlässigster Arbeit wegen eines Formfehlers die Rente verweigert wird, und von seiner Exfrau, die den Windhund ihrer begütertern Chefin mit Filets füttern, auf Seidenkissen betten und in der Limousine ausfahren muss. Dekadenz und Armut stehen sich hier knallhart gegenüber - bis die Situation langsam kippt und Putzmann wie Dienstmädchen sich mit sanften Akten der Sabotage wehren. Ein Genuss! Und das Lächeln, das einzige überhaupt, das ganz am Ende kurz über das Gesicht des Putzmanns huscht, das nimmt man mit aus dem Kino und von dieser Berlinale.