Zirkeltag der Berliner Mauer
5. Februar 2018Ist das wirklich wahr, am 5. Februar 2018 sind mehr als 28 Jahre oder genau 10.315 Tage seit dem Mauerfall vergangen? Schon ebenso viele Tage, wie die Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 die Stadt und irgendwie auch das Land und die Welt teilte. Kaum zu glauben. Weshalb nur kommt mir die Zeit ihrer Existenz so viel länger vor?
Zugegeben, als die Mauer gebaut wurde, war ich noch so klein, dass ich dieses tragische politische Ereignis von Weltbedeutung vermutlich verschlafen habe. Dennoch kann ich mich an die besorgten Gesichter meiner Eltern erinnern, wenn sie sich infolge dieses Mauerbaus über Jahre hinweg immer wieder über Fluchten, Fluchtversuche und erschossene Flüchtlinge austauschten. Keine Frage, das Rheinland war weit weg von der ehemaligen Reichshauptstadt - damals noch weiter als heute. Dennoch war dieser brutale, Leben und Hoffnung zerstörende Brecher aus Stahlbeton und Stacheldraht auch bei den Menschen weit im Westen Deutschlands ein großes Thema.
Theorie und Praxis in der Schule
Ganz nah kam mir die Mauer dann während der Schulzeit. Zuerst als Grundschüler. Da gab es tatsächlich den Vater eines Mitschülers, der Sperranlagen und Minenfelder erfolgreich und unverletzt überwunden hatte. Das klang dann schon gefährlich und ein bisschen auch nach Abenteuer.
Vollends im Stoff war ich 1974, als wir in Vorbereitung unserer Klassenfahrt nach Berlin (West) die Stadt von allen Seiten beleuchteten - historisch und aktuell. Natürlich waren wir dort auch im Theater, in der Oper, in diversen Museen und auf dem Ku'damm zum Shoppen. Aber nichts hat uns Jugendliche so geprägt wie diese Mauer, die einfach alles gnadenlos zerschnitt, trennte, zerstörte. Nichts wurde so unauslöschlich in unsere jungen Köpfe implantiert wie das Stacheldraht-Beton-Ufer der Insel Berlin (West): Die Ausblicke von Besucherplattformen über die Mauer hinüber zu Sperranlagen, Wachtürmen, kahlen Flächen – dann die Blicke der DDR-Grenzsoldaten herüber zu uns durch die präzise Schärfe ihrer Feldstecher. Mehr Beklommenheit ging nicht – vorerst jedenfalls.
Gefilzt bis zum Gehtnichtmehr
Sechs Jahre später schon. 1980 saß ich - inzwischen 21 Jahre alt - im Sonderzug von Köln nach Moskau. Olympische Spiele in der Hauptstadt des großen DDR-Brudervolks standen an. Allerdings boykottierten bis auf Großbritannien alle westlichen Staaten dieses Sportereignis wegen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan. Schlechte Voraussetzungen für uns als Zuschauer - und Reisende.
Denn dieser Boykott hatte sich mutmaßlich negativ auf die Stimmung der DDR-Grenzsoldaten ausgewirkt. Oder waren die etwa immer so drauf? Kontrolle nach der Grenzüberfahrt bei Helmstedt/Marienborn, Kontrolle beim Verlassen der DDR und vor der Einfahrt nach Berlin (West). Kontrolle nach der Einfahrt in den Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin, Kontrolle vor dem Verlassen des Staatsgebiets der DDR Richtung Polen. Jede Form von Ansprache geschah im Kommandoton, dazu konzentrierte, prüfende und kühle Blicke der Uniformierten. Jeder im Abteil musste mehrfach den Inhalt seines Reisekoffers komplett auseinanderpflücken und sogar mitgeführte Bananen schälen.
Da es bereits dunkel war, als der Zug Berlin erreichte, wurden die Grenzanlagen von gleißendem Scheinwerferlicht geflutet, das die Nacht zum Tag und eine Flucht nahezu unmöglich machte. Besonders bedrohlich, beinahe apokalyptisch wirkte die Szenerie dort, wo an langen Laufleinen fixierte Wachhunde den im Schritttempo fahrenden Zug verbellten oder am Spreebogen, wo gleich an der Ecke des Reichstags die Grenze zwischen West und Ost verlief. Nicht zu vergessen die bewaffneten Soldaten auf den Bahnsteigen des Bahnhofs Friedrichstraße und halb versteckt in ihren Überwachungskabinen unter dem Hallendach. Wie wird es wohl den Normalos oder gar Dissidenten gehen, die in diesem Spitzel-Staat leben müssen?, schoss es mir damals durch den Kopf. Wieder prägende Erfahrungen mit der Mauer und dem Staat, der sich hinter ihr verschanzte.
Betoniert für die Ewigkeit
Die Jahre vergingen, das Interesse an gesamtdeutschen Themen, insbesondere dem der deutschen Teilung, keineswegs. Dieser ostdeutsche sozialistische Unrechtsstaat existierte noch immer und erfreute sich anscheinend bester Vitalität. Die Zahl der Fluchten, Fluchtversuche und Mauertoten stieg. Und wann immer eine spektakuläre Flucht gelang, freute ich mich diebisch.
Erst Ende April 1989 war ich dann wieder in Berlin. Inzwischen Redakteur beim Radio, hatte ich im Rahmen einer Informationsreise mit anderen Journalisten jede Menge Gelegenheit, mit politisch Verantwortlichen des Berliner Senats meinen Wissensdurst in Hintergrundgesprächen zu stillen. Zudem führte uns ein quirliger alter Stadtführer mit echter Berliner Schnauze zu all den geschichtsträchtigen Orten der Stadt – auch zu den Winkeln, die dem Auge des Touristen in aller Regel verborgen blieben.
Unvergessen das blasse Gesicht des jungen, blonden Grenzbeamten, der am Übergang Friedrichstraße intensiv meinen Ausweis kontrollierte. Unvergessen der spezielle Geruch im Ostteil, zusammengequirlt aus den Abgasen der Zweitakt-Motoren und dem Rauch der Kohleheizungen. Unvergessen ein beinahe lethargischer Ausdruck in den Gesichtern vieler Menschen. Und am Ende der Reise angesichts der nahezu perfektionierten Mauer und der Grenzanlagen die erschlagende Erkenntnis: Diese sozialistische Diktatur hat sie betoniert für die Ewigkeit!
Wehrlos gegen Kerzen und Gebete
Wie man sich doch täuschen kann. Die vermeintliche Ewigkeit sollte nur noch ein gutes halbes Jahr dauern. Dann war das menschenverachtende Konstrukt Berliner Mauer mitsamt seinen Konstrukteuren und Bewachern Geschichte – weggefegt vom Atem der Freiheit und vom Wind der Veränderung. Bei mir: pure Freude. Für mich war es grandios, Zeitzeuge dieser Entwicklung zu sein und erst recht, sie als frisch ernannter Bereichsleiter Aktuelles für meinen damaligen Sender journalistisch begleiten zu dürfen. Mehr ging wirklich nicht.
Erledigt wurden Mauer und DDR-Regime nicht mit Gewalt, sondern friedlich durch die von ihnen eingesperrten Menschen. "Mit allem haben wir gerechnet", sagte Ex-SED-Grande Horst Sindermann nach der politischen Wende, "nur nicht mit brennenden Kerzen und Gebeten. Die haben uns wehrlos gemacht." Dass diese Revolution erfolgreich war, ist und bleibt ein riesiges Wunder, dass sie vollkommen ohne Blutvergießen ablief, ein ebenso großes. "Nun danket alle Gott", titelte die Bildzeitung damals und sprach damit vielen aus dem Herzen. Hoffentlich werden die Menschen in Deutschland in weiteren 28 Jahren oder 10315 Tagen all das nicht vergessen haben.
Und hoffentlich vergessen all die aktuellen Mauerhüter, Mauerplaner und Mauerbauer nicht, wie schnell solche Bauwerke in der Requisite der Geschichte verschwinden können.