Chaos oder chinesischer Traum?
19. Oktober 2016Deutsche Welle: Die sogenannte Szenariomethode stammt ursprünglich aus der Wirtschaft. Sie wurde vom Ölkonzern Shell entwickelt, um besser einschätzen zu können, wie sich die globale Nachfrage nach Öl entwickeln wird. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese Forschungsmethode auf ein politisches Thema zu übertragen?
Bernhard Bartsch: Die Frage, wie sich China entwickeln wird und welche Auswirkungen das auf Deutschland und Europa hat, stellt sich politisch genauso wie wirtschaftlich. Wir haben uns gefragt, was man über die Zukunft überhaupt einigermaßen verlässlich sagen kann. Natürlich hat niemand eine Kristallkugel, mit der er in die Zukunft sehen kann. Aber trotzdem muss man für die Zukunft planen.
Wenn man das tut, geht man automatisch von irgendeiner Annahme aus, wie sich die Dinge entwickeln. Aus der Zukunftsforschung weiß man, dass es wenig bringt, viel Zeit darauf zu verwenden, ganz exakt bestimmte Zukunftstrends auszurechnen. Das funktioniert nicht. Es ist viel nützlicher, sich die unterschiedlichen Möglichkeiten anzuschauen und zu verstehen, was sie für uns in Deutschland oder Europa bedeuten.
Nun könnte man sagen, dass die politische Entwicklung eines ganzen Landes viel komplexer ist als beispielsweise eine konkrete wirtschaftliche Fragestellung. Wie plausibel ist es denn, mit dieser Methode mögliche Zukunftsszenarien Chinas darzustellen?
Das ist genau die richtige Frage. Die haben wir uns auch gestellt. Gerade im Falle Chinas, das sich in den letzten Jahrzehnten so rapide entwickelt hat, haben wir gesehen, dass viele bisherige politische Vorhersagen, falsch waren. Deswegen wollten wir keine Vorhersage machen, sondern vielmehr in Möglichkeiten denken.
Wir können zwar nicht wissen, was genau passiert. Aber wir können uns das Spektrum der Möglichkeiten anschauen. Das ist das, was man mit der Szenariemethode tut. Die Szenariomethode ist ein Strategieinstrument. Es ist eine Fantasievorlage, mit der man etwas disziplinierter und systematischer überlegen kann, welche Entwicklungen welche Auswirkungen hätten.
In der Studie gibt es sechs Szenarien: den "Status quo", den "chinesischen Traum", die "Große Mauer", das "Singapurmodell, die "Demokratie" und das "Chaos". Kann man diese Szenarien nach einem Wahrscheinlichkeitsgrad ordnen?
Nein! Mit Wahrscheinlichkeit hat das weniger zu tun. Wir haben diese Szenarien in drei Gruppen eingeteilt. Da ist zum einen der "Status quo". Das bedeutet, dass China im Jahr 2030 ähnlich funktionieren wird wie heute. Das heißt aber nicht, dass China genau so sein wird wie heute. Aber die Art und Weise, wie das Land funktioniert, wird gleich sein.
Dann gibt es eine zweite Gruppe. Das sind zwei Szenarien, bei denen wir aktuelle Trends weitergedacht haben. Das ist auf der einen Seite der "chinesische Traum". Dieses Szenario basiert auf der Annahme, dass all die Reformvorhaben, die Xi Jinping auf den Weg gebracht hat, tatsächlich umgesetzt werden. Das andere ist das Szenario "Große Mauer". Das geht davon aus, dass es mehr Spannungen gibt, mehr Konflikte mit Chinas Nachbarn. Also im Grunde eine Eskalation der bestehenden Konflikte. Beides sind Szenarien, die auf Trends aufsetzen, die es jetzt schon gibt.
Dann gibt es eine dritte Gruppe von tatsächlich eher unwahrscheinlichen Szenarien. Wir nennen sie auch "disruptive Szenarien": das "Singapur-Modell", die "Demokratie" und das "Chaos". Damit diese Szenarien eintreten, müsste etwas ganz Dramatisches passieren, also nicht nur eine Fortschreibung von aktuellen Trends. Es müsste ein zusätzliches starkes Ereignis passieren, so dass sich der Weg der Entwicklung noch einmal ganz grundsätzlich in eine ganz andere Richtung bewegt.
Kann man sagen, welches dieser Szenarios für Deutschland am vorteilhaftesten ist?
Das ist natürlich die entscheidende Frage. Zunächst einmal ist die Annahme, warum man mit solchen Szenarien arbeitet, dass es in jedem Szenario Vorteile und Nachteile gibt. Und in jeder Entwicklung wird es Gewinner und Verlierer geben. Trotzdem gibt es natürlich einen klaren Trend. Aus deutscher Sicht ist ein erfolgreiches China viel besser als ein China, das sich isoliert oder interne Probleme bekommt.
Deutschland hat in der Vergangenheit von Chinas Wachstum und Öffnung profitiert. In den Szenarien, in denen sich China weiter der Welt öffnen und sich gesellschaftlich und wirtschaftlich gesund entwickeln würde, würde Deutschland sowohl wirtschaftlich als auch politisch sehr gute Kooperationsmöglichkeiten haben. Das sind also insbesondere der "chinesische Traum" oder das "Singapur-Modell".
Gab es im Rahmen der Forschung einen Austausch mit der chinesischen Seite?
Ja. Es ist zwar vor allem eine Studie aus deutscher Sicht. An dieser Studie haben mehr als hundert Experten mitgearbeitet. Das waren überwiegend Deutsche. Darunter allerdings viele, die für viele Jahre in China gearbeitet haben. Aber es waren auch einige Chinesen mit dabei. Wir haben darüber hinaus das Ergebnis auch mit verschiedenen chinesischen Gruppen besprochen: mit einer Wirtschaftsdelegation, mit einer Diplomatendelegation und auch mit einer ganzen Reihe anderer chinesischen Akteure.
Gibt es schon Feedback zu der Studie?
Die Resonanz ist sehr gut. Was uns am meisten freut, ist, dass diese Studie nicht nur gelesen und zitiert wird, sondern dass es auch eine ganze Reihe von Akteuren gibt, die mit dieser Studie wirklich arbeiten. Es gibt Unternehmen, die ihren ganzen Vorstand und ihre wichtigsten Partner eingeladen haben, um mit dieser Studie zu planen, wie sie ihr eigenes Geschäft entwickeln sollen. Und das ist genau das, was wir möchten.
Diese Studie stellt keine fertigen Ergebnisse vor. Sie ist ein Instrument zur strategischen Planung, mit dem jeder seine ganz eigenen Ergebnisse feststellen kann. Darüber hinaus haben wir ein Online-Tool entwickelt, mit dem jeder relativ schnell online seine eigenen Annahmen mit denen der Experten vergleichen kann. Auch das haben viele Menschen schon gemacht.
Gibt es auch schon chinesische Reaktionen?
Die Studie ist in China wahrgenommen worden. Wir haben sie auch ganz bewusst verschiedenen chinesischen Akteuren gezeigt. Für die meisten war es vor allem interessant, sich anzuschauen, wie Deutsche über China denken. Ich glaube, Chinesen können in dieser Studie nicht so viel über China selbst lernen. Da weiß jeder Chinese sowieso viel mehr als wir. Aber sie können an dieser Studie sehr gut sehen, wie in Deutschland über China nachgedacht wird und welche strategische Dimension China für Deutschland hat.
Bernhard Bartsch ist Senior Expert im Programm "Deutschland und Asien" der Bertelsmann-Stiftung.
Das Interview führte Zhu Yuhan.