Verletzter Glaube
22. August 2012Die 26 Mitglieder des unabhängigen Gremiums aus Sachverständigen müssen im Auftrag von Bundesregierung und Bundestag die religiösen, ethischen, gesellschaftlichen, medizinischen und politischen Hintergründe von Beschneidungen ausloten.
Streit gibt es nicht nur darüber, ob minderjährige Jungen aus religiösen Motiven beschnitten werden dürfen. Kontroversen gibt es auch bei der Frage, bis wann eine gesetzliche Lösung gefunden werden soll. "So rasch wie möglich", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wissen lassen und weiß die Fraktionen von CDU/ CSU, FDP und SPD auf ihrer Seite. Damit entspricht sie dem Wunsch von Muslimen und Juden, die auf eine baldige Lösung drängen.
Die Grünen hingegen fordern mehr Zeit zum Abwägen. Auch Christiane Woopen, Medizinerin und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, hält Schnelligkeit für verfehlt und widersprach Merkel mit ihrer Aussage im Nachrichtenmagazin "Focus".
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) glaubt sogar, dass am Ende nicht die Politik, sondern die Richter am Bundesverfassungsgericht urteilen müssen, wie in dieser heiklen Angelegenheit entschieden wird.
Keine reine Glaubensfrage
Für die Religionsvertreter von Judentum und Islam jedenfalls käme es einem Affront gleich, wenn männliche Kinder nicht mehr beschnitten werden dürften. Grünen-Vorsitzender Cem Özdemir hat außerdem Vorbehalte gegen eine Altersgrenze bei religiös begründeten Beschneidungen: "Für die Juden, die die Beschneidung kurz nach der Geburt durchführen lassen, wäre eine Altersgrenze katastrophal", sagte Özdemir der "Welt am Sonntag".
Doch es geht nicht nur um religiöse Traditionen, um medizinisch-sterile Eingriffe, sondern auch um Menschenrechte. Die Richter am Kölner Landgericht hatten religiöse Beschneidungen von Jungen als Körperverletzung gewertet. Das Wohl des Kindes sei vorrangig zu berücksichtigen, argumentieren viele Mediziner und Juristen. Angeführt von Medizinprofessor Matthias Franz hatten sie in einem offenen Brief an die Bundesregierung die "bemerkenswerte Verleugnungshaltung und Empathieverweigerung gegenüber den kleinen Jungen, denen durch die genitale Beschneidung erhebliches Leid zugefügt wird", beklagt.
Diffuse Rechtslage
Jedenfalls weigern sich inzwischen viele Ärzte, den Eingriff durchzuführen, weil sie sich möglicherweise strafbar machen würden. Selbst die Staatsanwaltschaften in den einzelnen Bundesländern sind sich uneins darüber, wie sie im Fall einer Anzeige vorgehen wollen.
Juden verweisen bei der Jungenbeschneidung (am achten Tag nach der Geburt) darauf, dass es sich dabei um ein uraltes Ritual ihrer Religion handele und durch ein Verbot jüdisches Leben in Deutschland unmöglich würde. Muslime warnen indes vor einem Beschneidungstourismus ins Ausland oder illegalen Beschneidungen in dunklen Kellern, die von Kurpfuschern durchgeführt würden.
Hans-Jürgen Papier, ehemals Präsident am Bundesverfassungsgericht, will Beschneidungen per Gesetz legalisieren, da sie für Juden und Muslime "einen essenziellen Glaubensinhalt" bedeuteten.
Der Kinderarzt Volker von Loewenich, Vorsitzender der Kommission für ethische Fragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, erklärte gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", dass sich jeder Erwachsene aus freien Stücken beschneiden lassen könne. Aber bei Kindern werde die Fürsorgepflicht der Eltern verletzt. Außerdem sei die Beschneidung Körperverletzung.
Fest steht heute wohl nur soviel: Ein Gesetz wird Rechtssicherheit schaffen. Aber es braucht Zeit, alle Argumente abzuwägen und zu bewerten - unter Berücksichtigung der religiösen Traditionen. Viele Bundestagsabgeordnete haben sich bereits dafür ausgesprochen, ohne Fraktionszwang über die geplante gesetzliche Regelung abzustimmen, sondern allein dem Gewissen folgend.