Hans Niemann - der Schach-Großschwindler?
6. Oktober 2022Diese Eskalation war der vorläufige Höhepunkt des Skandals, der die Schach-Welt in Atem hält: Weltmeister Magnus Carlsen, der schon zuvor öffentlich Zweifel an der Fairness von Großmeister Hans Moke Niemann geäußert und ihm konkret Betrug vorgeworfen hatte, brach die Partie gegen den 19-jährigen US-Amerikaner beim Onlineturnier "Julius Bär Generation Cup" am 19. September nach nur einem Zug ab und verließ den Video-Chat kommentarlos. Sein Gegner sowie Zuschauer blieben fassungslos zurück. Zwar äußerte sich Carlsen nach der Aufgabe zunächst nicht erneut zu den Betrugsvorwürfen gegen seinen Konkurrenten, doch der Rückzug des Norwegers wurde allgemein als neuerlicher Betrugsvorwurf gegenüber Niemann interpretiert.
Online-Betrug zugegeben
Es geht um die Vergangenheit des Schach-Top-Talents und die Frage, ob er systematisch betrogen hat. Niemann hatte zuletzt eingeräumt, im Alter von 12 und 16 Jahren jeweils einmal nicht regelkonform gespielt zu haben. Der US-Amerikaner gab während des Sinquefield Cups Anfang September in einem Interview zu, bei Online-Partien betrogen zu haben, nie jedoch in Präsenz am Schachbrett.
Ob es je einen Betrug im direkten Duell am Schachbrett gegeben hat, ist unklar. Doch online hat Niemann offenbar viel öfter betrogen, als in den zwei eingeräumten Fällen. Ein Untersuchungsbericht der Online-Plattform chess.com, über den das Wall Street Journal am Dienstag (04. Oktober) berichtete, spricht von mehr als 100 Online-Betrugsfällen. Den Angaben zufolge hat Niemann zuletzt 2020 betrogen und das auch bei Turnieren, in denen es um Preisgelder ging. Der 19-Jährige soll die Anschuldigungen laut Wall Street Journal zugegeben haben. Nun wird er für eine nicht genannte Zeit von der weltweit führenden Schachplattform ausgeschlossen - sowohl für Online-Partien im Amateur- als auch im Profibereich.
Weitere Zweifel bleiben
"Ich glaube, dass Niemann - auch in letzter Zeit - mehr betrogen hat, als er öffentlich zugegeben hat", sagte Magnus Carlsen nach dem Geständnis der zwei Betrugsfälle seitens seines Kontrahenten während des Sinquefield Cups. Der Weltmeister dürfte sich durch den Untersuchungsbericht bestätigt fühlen - eine neuerliche Reaktion gab es von seiner Seite aus aber noch nicht.
Der Bericht von chess.com trifft laut Wall Street Journal keine Aussage dazu, ob Niemann bei direkten Duellen ebenfalls betrogen hat. Allerdings gebe es den Hinweis, dass Niemanns stärkste Vorstellungen weitere Untersuchungen auf Grundlage der Daten verdienten. Cheating am Brett sei allerdings schwieriger zu entdecken, schreibt chess.com. Der Schach-Weltverband FIDE hatte in der vergangenen Woche bekannt gegeben, dass er eine Untersuchungskommission einsetzen werde.
Verdächtiger Aufstieg?
In einem eigenen Abschnitt beschäftigt sich der Bericht auch mit dem Aufstieg von Hans Niemann. Der 19-Jährige sei unter allen jungen Talenten derjenige mit der rasantesten Entwicklung, so die Beobachtung von chess.com. In den Rang eines Großmeisters kam der US-Amerikaner erst verhältnismäßig spät mit 17 Jahren und hat seitdem einen kometenhaften Aufstieg hingelegt. Normalerweise erreichen junge, hochtalentierte Nachwuchsspieler den Großmeister-Rang im Alter von 14 bis 15 Jahren - mitunter sogar früher. In mehreren Diagrammen zeigt der Bericht, wie außergewöhnlich die Leistungsexplosion von Niemann ist.
Doch all das sind lediglich Indizien. "Obwohl Hans einen rekordverdächtigen und bemerkenswerten Aufstieg in der Bewertung und Spielstärke zu verzeichnen hat, fehlt es unserer Ansicht nach an konkreten statistischen Beweisen, dass er in seiner Partie mit Magnus oder in anderen Over-the-Board ("OTB")- Partien betrogen hat", heißt es in dem 72 Seiten umfassenden Bericht. Ungeachtet der brisanten Enthüllungen wird Niemann nun an den US-Schach-Meisterschaften, die am Tag der Veröffentlichung im Wall Street Journal starteten und am 20. Oktober enden, teilnehmen.
Korrektur am 06.10.2022: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es im ersten Absatz, dass Carlsen die Partie beim Sinquefield Cup abbrach. Dies wurde korrigiert. Die Redaktion bittet den Fehler zu entschuldigen.