Bhopal - eine unendliche Katastrophe
2. Dezember 2014"So langsam kommen sie wieder", erzählt Rihana und wischt sich eine Träne aus den Augen. Damit meint die 46-Jährige die Reporter und Kamerateams, die in regelmäßigen Abständen nach J.P. Nagar, ein Armenviertel in Bhopal, kommen. Besonders, wenn ein runder Jahrestag der Katastrophe ansteht, blickt die Welt plötzlich auf die Stadt im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh.
Rihana sitzt heute mit anderen Überlebenden zusammen, um Aktionen rund um den Jahrestag zu planen. "Meine Augen brannten, als hätte mir jemand Chilipulver hineingeschmiert", erinnert sie sich. "Mein Bauch fühlte sich an, als lodere Feuer darin." Vor lauter Husten habe sie sich die ganze Nacht übergeben müssen. Ihre zwei älteren Brüder rannten damals weg und überlebten. Rihana entschied sich, bei ihren Eltern und dem kleinen Bruder in ihrer Hütte zu bleiben. Wie durch ein Wunder überlebte sie als einzige die Nacht.
Über 20.000 Todesopfer
Rihana atmete in dieser Nacht vor 30 Jahren das hochgiftige Methylisocyanat, kurz MIC, ein. MIC ist ein Stoff zur Bekämpfung von Insekten. Beim Menschen greift die Substanz die Schleimhäute an und verätzt die inneren Organe. Das US-Unternehmen Union Carbide hatte das Pestizid seit Anfang der 70er Jahre in seiner Fabrik in Bhopal produziert.
Bis zu jenem Sonntagabend Anfang Dezember 1984, als Wasser in den Tank eindrang, in dem das Gift gelagert war. Durch die chemische Reaktion entwich ein Gasgemisch als weißer Rauch aus dem Behälter und legte sich über das nahe gelegene Armenviertel, in dem auch Rihana und ihre Familie bis heute leben. Was dann folgte, sollte den Tod für mehr als 20.000 Menschen bedeuten. Viele starben in der Nacht mit aufgerissenen Mündern, da sie wegrannten und dabei zwischen Luftholen und Erbrechen das Leben verloren. Hunderttausende, die überlebten, leiden heute noch unter chronischen Beschwerden. Das ist der eine Teil der Katastrophe.
Vergiftetes Grundwasser
Der zweite Teil begann eigentlich schon früher. Bereits vor der Gaskatastrophe hatte Union Carbide seine Abfälle direkt hinter die Fabrik gekippt. Der Chemieschrott drang ins Grundwasser. In einigen Proben fanden Umweltaktivisten Arsen, Benzole und Schwermetalle, die ein Vielfaches über den Grenzwerten der Weltgesundheitsorganisation liegen. Die Folgen spüren vor allem die Einwohner des Armenviertels, deren Brunnen direkt hinter der Mauer von Union Carbide stehen.
"Mein Sohn kam 1988 zur Welt, also vier Jahre nach der Katastrophe", erzählt Rihana. "Seitdem er acht Jahre alt ist, ist er krank. Erst bekam er Tuberkulose. Mittlerweile hat er ernsthafte Nierenprobleme". Eigentlich müsste er dringend operiert werden. Aber Rihana weiß nicht, wie sie die 9000 Rupien, umgerechnet etwas mehr als 100 Euro, bezahlen soll. Damals ahnte sie noch nicht, was schon bald auf sie zukommen würde.
US-Konzern sieht keine Schuld bei sich
Entschädigungen gab es bislang nur einmal, für die Opfer der Gaskatastrophe. 1989 einigten sich das US-Unternehmen und die indische Regierung in einem außergerichtlichen Vergleich auf Entschädigungszahlungen von 470 Millionen Dollar. Doch viele der Opfer klagen seitdem, dass sie das Geld nie erreicht hat. Rihana erhielt damals 25.000 Rupien, was heute etwa 320 Euro entspricht. Für ein lebenslanges Leiden, denn auch sie klagt seit dem Unglück über Atemlosigkeit. Bei ihrem Ehemann wurde vor Jahren ein Ödem in der Lunge diagnostiziert.
Der Chemiekonzern Union Carbide gehört seit 2001 zum Unternehmen Dow Chemical. Auch 30 Jahre nach der Tragödie argumentiert man seitens des Unternehmens mit Sitz im US-Bundesstaat Michigan, dass die Fabrik damals in indischer Hand war. "Die Fabrik ist von Indern in Indien errichtet und betrieben worden", erklärt der Unternehmenssprecher Tomm F. Sprick. US-Gerichte hätten das bestätigt. Demzufolge liege auch die Verantwortung bei den indischen Behörden.
Auf die Frage, wer für die Verschmutzung des Grundwassers geradestehen muss, antwortet Sprick nicht. Statt dessen verweist er auf die eigens für dieses Thema eingerichtete Internetseite. Hier zitiert Union Carbide eine Studie, nach der es außerhalb des Fabrikgeländes keine Spur von verseuchtem Grundwasser gebe. Außerdem habe die Regierung des Bundesstaates Madhya Pradesh bereits 1998 die Verantwortung für das Gelände übernommen - und Union Carbide damit nichts mehr zu tun.
Immerhin ist die Politik nach jahrelangem Protest von Aktivisten und einem Gerichtsentscheid aktiv geworden. Seit ein paar Wochen haben die meisten Bewohner von J.P. Nagar Zugang zu sauberem Trinkwasser. Eine Stunde am Tag. Immer noch sind Verfahren vor indischen und US-Gerichten anhängig. Unter anderem geht es darum, ob Union Carbide für den verseuchten Grund und Boden mit zur Verantwortung gezogen wird. "Das ist schon mal etwas", erklärt Rihana, "aber davon kann ich meinem Sohn nicht die Operation bezahlen." Eine Woche nachdem wir Rihana getroffen haben, starb der 24-Jährige an den Folgen seiner Nierenkrankheit. Für ihn kam jede Hilfe zu spät.