Bildergeschichten: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
3. Juni 2013Es gab wahrlich schon bessere Tage im Leben des deutschen Kaisers als diesen Sonntagmorgen. Aber er hat ja nicht mehr die Macht, die Dinge selbst zu gestalten: Wilhelm II. steht als vierter von links, umringt von wenigen Getreuen und gegen die Kälte des Herbsttages mit einem Pelzkragen geschützt, auf dem Bahnsteig des kleinen Örtchens Eijsden an der belgisch-holländischen Grenze. Es ist der 10. November 1918.
Der Monarch, der von deutscher Weltgeltung träumte, aber schließlich das Reich in den verheerenden Ersten Weltkrieg führte, er ist seit gestern arbeitslos: Als Deutscher Kaiser und König von Preußen hat er auf den Thron verzichten müssen, im fernen Berlin ist bereits die Republik ausgerufen.
Nackte Angst hat den 59-Jährigen auf diesen Bahnsteig getrieben: In seinem Hauptquartier im belgischen Spa, wo ihn die Nachricht von seiner "Abdankung" erreicht (die Reichskanzler Max von Baden kurzerhand ausgesprochen hatte), fühlte er sich bedroht. Revolutionäre Truppen seien im Anmarsch, wurde jetzt kolportiert und auch der kaiserlichen Leibwache sei nicht mehr zu trauen. Mit Schrecken erinnert sich Wilhelm an die Ermordung des russischen Zaren durch Revolutionäre. Dann lieber die Flucht ins Ausland!
Auf dem kleinen Bahnhof Eijsden ist er allerdings auch nicht willkommen, die örtliche Bevölkerung ist aufgebracht und beschimpft den abgedankten Monarchen. Doch der muss notgedrungen stundenlang ausharren, bis sein Hofzug mit dem restlichen Gefolge und über 70 Bediensteten nachkommt und ihn zunächst ins Schloss Amerongen in der Provinz Utrecht bringt. Die holländische Königin hat ihm Asyl gewährt.
Noch ahnt niemand, dass Wilhelm über 22 Jahre in den Niederlanden bleiben wird. Hier stirbt er am 4. Juni 1941 im Alter von 82 Jahren. Eine Überführung seiner sterblichen Überreste nach Deutschland sollte nach seinem Willen erst stattfinden, wenn in seiner Heimat wieder die Monarchie eingeführt wird. Glücklicherweise blieb dieser Wunsch unerfüllt.