Biodiversität nachhaltig nutzen ist existenziell
11. Juli 2022Um wilde Arten vor dem Aussterben zu retten und für den Menschen existenziellen Ökosysteme zu erhalten sind "transformative Veränderungen” nötig, das stellen die Autoren eines neuen Berichts des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) heraus.
"Fast die Hälfte der Weltbevölkerung ist mehr oder weniger stark auf die Nutzung wildlebender Arten angewiesen. Das ist viel umfassender, als die meisten Menschen denken”, sagt John Donaldson, Co-Vorsitzender des Weltbiodiversitätsrats.
An den Berichten des IPBES waren knapp 400 Experten und Wissenschaftler, sowie Vertreter indigener Gemeinschaften beteiligt. Sie werteten tausende wissenschaftliche Quellen aus. Die Berichte wurden diese Woche von 139 Mitgliedsstaaten verabschiedet.
Das sechste Massensterben bedroht Ökosysteme weltweit
Derzeit sind weltweit etwa eine Millionen Arten vom Aussterben bedroht. Die Gesundheit der Ökosysteme verschlechtert sich schneller als je zuvor und mit dramatischen Auswirkungen, ob an Land, in den Wäldern oder in den Meeren. Das untergräbt die Basis unserer Wirtschaft und unseres Wohlstands, schadet der Gesundheit und mindert die Lebensqualität der Menschen auf der ganzen Erde.
Durch den menschengemachten Klimawandel steuert die Erde derzeit auf eine Erwärmung von 2,7 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu. Schon jetzt sind einige vom Aussterben bedrohten Arten in den am stärksten gefährdeten Gebieten oder einem zehnfach höheren Risiko ausgesetzt als unter normalen Bedingungen. Einige Forscher sprechen bereits vom sechsten Massensterben in der Geschichte unseres Planeten. Der neue Bericht baut auf diesen Erkenntnissen auf.
Denn alle wilde Arten, Fische in Meeren und Flüssen, ebenso wie Insekte, Pilze, Algen, wilde Früchte, Wälder und Vögel - haben eine überragende Bedeutung für die Ökosysteme und für den Menschen. Sie nachhaltig zu nutzen ist eine wichtige Aufgabe künftiger Generationen, so die Autoren.
Was nutzen wilde Arten den Menschen?
Wilde Arten zu schützen und sie so zu nutzen, dass ihre Existenz und die ihres Ökosystems erhalten bleibt, bedeutet gleichzeitig die Sicherung der Lebensgrundlage von Millionen von Menschen.
So ist etwa die Lebensmittelproduktion von zwei Drittel aller Nutzpflanzen von meist wilden Bestäubern abhängig. Wilde Pflanzen, Pilze und Algen sind ein wichtiger Teil der Nahrung für ein Fünftel der Weltbevölkerung. Und ein Großteil der der einkommensarmen Menschen ist direkt von wilden Arten abhängig.
Weltweit ist die Nutzung wilder Baumarten eine wichtige Einkommensquelle. Gleichzeitig brauchen über zwei Milliarden Menschen Feuerholz zum Kochen. Doch die Holzindustrie ist zum größten Teil nicht nachhaltig. Jedes Jahr gehen durch Abholzung rund fünf Millionen Hektar Wald verloren.
Aber auch der Nutzen von wilden Arten, die nicht von Menschen geerntet, gegessen oder verarbeitet werden ist groß. Durch Naturtourismus, wie zum Beispiel Tauchen, Vogelbeobachtung, Fotosafaris oder andere Erlebnisse in der Natur, bei denen die Beobachtung wilder Arten im Fokus steht, wurde 2018 mehr als120 Milliarden Dollar umgesetzt. Nationalparks und Naturschutzgebiete wurden vor der Pandemie weltweit schon von insgesamt acht Milliarden Menschen besucht, dabei wurden rund 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr erwirtschaftet.
Auswirkungen richtig bewerten, Umweltkosten benennen
Die Art und Weise, wie die Natur in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bewertet wird, ist ein entscheidender Faktor für die globale Krise der biologischen Vielfalt, so die Wissenschaftler.
Zu häufig werden Entscheidungen auf der Basis von wirtschaftlichen Betrachtungsweisen getroffen. Diese übersehen allerdings, wie sich die Veränderungen der Natur auf das Leben der Menschen auswirkt, stellen die Wissenschaftler fest. Beispielsweise konzentrieren sich politische Entscheidungen meistens auf kurzfristige Gewinne und Werte wie das Bruttoinlandsprodukt zur Messung des Wirtschaftswachstums. Hier fließen aber weder Werte zur Übernutzung, die langfristigen Auswirkungen oder sozialer Gerechtigkeit mit ein.
Diese miteinander verbundenen Werte in die Entscheidungsfindung einzubeziehen “müssen die Begriffe "Entwicklung" und "gute Lebensqualität" neu definiert und die vielfältigen Beziehungen der Menschen untereinander und zur Natur anerkannt werden,” so Dr. Patricia Balvanera, mitverantwortlich für einen der beiden Berichte .
Vom Sushi-Hype zur Erholung der Thunfischpopulation
"Wenn man es richtig angeht, wird nicht nur die Nachhaltigkeit verbessert, sondern dann ist auch eine Erholung der Bestände möglich, die bisher übernutzt wurden”, so Donaldson. Er nennt das Beispiel des Blaufflossen-Thunfischs, der durch einen Sushi-Hype seit den 80er Jahren kurz vor dem Aussterben stand.
Durch das Engagement von Nichtregierungsorganisationen, der Verkürzung der Fangsaison, einer Anhebung der Mindestgröße, besseren Instrumenten zur Überwachung und Kontrolle des Fangs, sowie einer starke Reduzierung der jährlichen Fangquoten haben sich die Bestände heute erholt.
Technologischer Fortschritt ist für die Nachhaltigkeit jedoch ein zweischneidiges Schwert, so die Wissenschaftler. Denn bessere Technologie werde die künftige Ausbeutung von natürlichen Ressourcen schneller und intensiver machen. Gleichzeitig gäbe es ein Potenzial, Produkte effizienter herzustellen und weniger Abfall dabei zu erzeugen.
Bei der Holzwirtschaft empfehlen die Wissenschaftler den Aufbau von funktionierenden Zertifizierungssystemen, ein Ende illegaler Abholzung, starke staatliche Institutionen zur Regulierung sowie eine Forstwirtschaft, die Landrechte der indigener Gemeinschaften respektiert und auf wilde Arten statt auf Monokulturen setzt.
Beitrag indigener Gemeinschaften "unterbewertet”
Indigene Gemeinschaften könnten eine bedeutende Rolle dabei spielen, Ökosysteme besser zu schützen und nutzten, das hebt der IPBES deutlich hervor. Ausdrücklich waren auch indigene Experten direkt daran beteiligt.
Durch die lange Tradition und Erfahrungen indigener Gemeinden mit nachhaltigen Lebensweisen kann die Artenvielfalt erhalten oder sogar erhöht werden. Dazu gehört das Respektieren von Ruhephasen für Nutzpflanzen und Tiere und das Verbot, bestimmte Arten während sensibler Jahreszeiten zu ernten oder zu jagen.
Es sei Teil ihrer Kultur, nicht mehr aus der Natur zu nehmen als gebraucht wird, Müll zu vermeiden und Ernten gerecht aufzuteilen, so die Wissenschaftler. Wo indigene Gemeinschaften leben, kommt es auch zu weniger Abholzung.
Diese Anerkennung "ist ein Fortschritt”, freut sich Viviana Figueroa vom International Indigenous Forum on Biodiversity, einem Zusammenschluss indigener Vertreter, Wissenschaftler und Aktivisten zu Umweltfragen. Denn "indigene Menschen machen die wirkliche Arbeit beim Artenschutz, ohne dafür bezahlt zu werden.”
Doch trotz dieses umfangreichen Beitrags für den weltweiten Artenschutz werden viele Gemeinschaften durch immer massivere Menschenrechtsverletzungen bedroht, und sind Landvertreibung, Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt.
Was die Gemeinschaften bräuchten seien Regierungen "die uns bei der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung von Wildtierarten unterstützen. Das wollen wir. Und zwar nicht nur auf dem Papier. Wir wollen, dass dieser Bericht dabei hilft auch reale Maßnahmen auf lokaler Ebene zu unterstützen,” so Figueroa.
"Einige der wichtigsten Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, ist, dass es dort besser funktioniert, wo eine Bewirtschaftung stattfindet, bei der eine Verbindung zwischen lokaler und nationaler Ebene oder sogar internationaler Regulierung besteht,” so Donaldson.
Dieser Artikel vom 08.07.2022 wurde nach Veröffentlichung des zweites IPBES-Berichts am 11.07.2022 aktualisiert.
In einer vorherigen Version hieß es, dass Nationalparks und Naturschutzgebiete pro Jahr acht Milliarden Besucher angezogen haben. Die Zahl bezieht sich aber auf die Gesamtzahl Besucher. Wir haben die Stelle korrigiert.