Bisher größter Prozess nach Putschversuch
30. Januar 2017Der Prozessauftakt in der westtürkischen Küstenstadt Izmir fand unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen statt. Im bisher umfangreichsten Gerichtsverfahren nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli sind 270 Menschen angeklagt, darunter diesmal auch direkt der islamische Prediger Fethullah Gülen. Den Angeklagten, von denen 152 in Untersuchungshaft sitzen, wird ein "Versuch zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung" und "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" vorgeworfen, wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldet.
Den Angeklagten droht bis zu zwei Mal lebenslange Haft. Die meisten von ihnen sind Militärs, darunter hochrangige frühere Offiziere wie der ehemalige General für die Ägäis-Region, Memduh Hakbilen. Sie werden beschuldigt, zur verbotenen Gülen-Bewegung zu gehören, die in der Türkei für den Umsturzversuch verantwortlich gemacht wird. Der im US-Exil lebende islamische Prediger bestreitet jede Beteiligung an dem versuchten Staatsstreich.
Unter Trump doch noch Gülen-Auslieferung?
Die Regierung in Ankara hat die Hoffnung geäußert, dass unter dem neuen US-Präsidenten Donald Trump "der Rechtsprozess" gegen Gülen "beschleunigt" werde. Die türkischen Behörden schickten am Montag eine weitere Akte in die USA, um ihr Auslieferungsgesuch für Gülen zu untermauern. Wie die Zeitung "Hürriyet" berichtete, enthält die Akte zusätzliche Informationen zu zwei mutmaßlichen Putsch-Beteiligten, die kurz vor dem Putschversuch in die USA gereist waren. Sie werden verdächtigt, sich dort mit Gülen getroffen zu haben, um Anweisungen für den Staatsstreich zu erhalten.
In der Türkei wurden nach dem Umsturzversuch mehr als 43.000 Militärangehörige, Polizisten, Beamte und Justizmitarbeiter unter dem Vorwurf festgenommen, zur Gülen-Bewegung zu gehören. Zwar haben in den vergangenen Wochen mehrere Verfahren begonnen, doch warten die meisten Beschuldigten noch auf ihren Prozess. Derweil lässt Präsident Recep Tayyip Erdogan durch seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP die Pläne für eine Machterweiterung durch eine neue Verfassung vorantreiben.
"Merkel-Besuch ist Wahlkampf-Hilfe für Erdogan"
In dieser angespannten Situation wird am Donnerstag Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei erwartet. Dieser Besuch laufe auf eine Wahlkampf-Hilfe für Erdogan hinaus, rügte der Chef der türkischen Opposition, Kemal Kilicdaroglu, der "Süddeutschen Zeitung". Ende März oder Anfang April sollen die Türken in einer Volksabstimmung über die Einführung des von Erdogan angestrebten Präsidialsystem entscheiden. Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) beklagte, die Botschaft von Merkels Besuch werde lauten, "dass sie mit ihrem Besuch dessen Plan unterstützt". Erdogan werde es "den Leute so präsentieren".
Das Parlament würde, sollte das Volk im Referendum für die Reform stimmen, zum "Abnicker-Gremium", sagte Kilicdaroglu weiter. "Der Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand." Nach Ansicht von Kilicdaroglu ist kein fairer Wahlkampf für die Volksabstimmung möglich. "Erdogan kontrolliert mehr als 90 Prozent der Medien. Rund um die Uhr läuft Erdogan-Propaganda", sagte er. "Wer Kritik übt, muss fürchten, ins Gefängnis zu kommen. Wir leben in einem Klima der Angst."
SC/uh (afpe, dpa)