Überfall Wehrmacht auf die Sowjetunion
21. Juni 2011Auf die Frage nach dem 22. Juni 1941 antwortet Gertrud Weyl spontan: "An diesen Tag erinnere ich mich noch ganz genau". Es war kurz vor ihrem 20.Geburtstag – und wie viele junge Frauen musste die angehende Medizinstudentin "Kriegsdienst" leisten, eine Art soziale Pflicht in Hitlers Reich. Gertrud Weyl arbeitete in dem kleinen hessischen Ort Flensungen in einer Einrichtung der so genannten "Kinderlandverschickung": "Das war ein Heim für Kinder aus dem Ruhrgebiet, die dort unter den starken Bombardierungen litten und sich bei uns erholen sollten", berichtet sie.
Schock und Entsetzen
"Frühmorgens am 22. Juni weckte mich meine Gruppenleiterin, sie war ganz verstört und rief: ’Gertrud, es ist Krieg mit Russland!’. Das werde ich nie vergessen". Lähmendes Entsetzen habe sich unter den jungen Frauen ausgebreitet. "Wir hatten ja schon so lange gehofft, dass der Krieg endlich zu Ende gehen würde". Jetzt aber machte der Feldzug nach Osten nicht nur den Studentinnen, sondern wohl allen Deutschen klar, dass davon keine Rede sein konnte. Den Propagandaparolen vom schnellen Durchmarsch und Erfolgen in einem "Blitzkrieg" habe man in ihrer Familie allerdings von Anfang an nicht geglaubt, sagt Gertrud Weyl. Freilich: Zuverlässige Informationen über das, was sich im Osten abspielte, hatte man nicht. Die Atmosphäre zu Hause aber sei in diesem Sommer vor siebzig Jahren düster und bedrückt gewesen.
Überraschungsangriff im Morgengrauen
Drei Millionen Wehrmachtssoldaten waren an diesem 22. Juni in Marsch gesetzt worden mit allem was die nationalsozialistische Rüstungsindustrie hergab: Panzern, Flugzeugen, Waffen. Die Militärelite hatte keine Bedenken, Widerstand, so berichten Historiker, habe es nicht gegeben. Über Nacht begann für die völlig überrumpelte Sowjetunion der Überlebenskampf. Die Legende, dass Hitler einem von Stalin bereits geplanten Einmarsch der Roten Armee zuvor gekommen sei, hat sich noch lange Jahre hartnäckig gehalten. Wissenschaftlich ist sie nicht belegt, wie Historiker heute betonen.
Ein Grab im Osten
Die Wehrmacht brauchte nun verstärkt Nachschub - der Moloch forderte Opfer. Gertrud Weyls Familie war davon genauso betroffen wie viele andere: "Mein Cousin Walter war gerade achtzehn geworden, sie haben ihm das Abitur geschenkt, ihn nur vier Wochen lang ausgebildet und dann ging es an die Front nach Osten. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört". Ihr älterer Bruder Ernst war da schon seit zwei Jahren bei der Wehrmacht – als Offizier und Stabsarzt zunächst, eingesetzt in Polen. Wegen kritischer Äußerungen zu Krieg und Nationalsozialismus wurde er denunziert, degradiert und in eine Strafkompanie versetzt – das Todesurteil. In den Kämpfen im Baltikum wurde er schwer verwundet und starb in einem Lazarett. Wenige Briefe, die erhalten sind, zeigen die Verzweiflung des jungen Arztes und Soldaten, der für kritische Worte mit seinem Leben bezahlte. Ernst Weyl indes hat, anders als sein Cousin, ein Grab. Es befindet sich im heutigen Lettland auf einem riesigen, vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge betreuten Soldatenfriedhof.
Eroberung und Vernichtung
Der rassistisch begründete Krieg im Osten war ein militärischer Raubzug zur Unterwerfung und Vernichtung eines Volkes, seiner Kultur und Infrastruktur. Die Wehrmacht sollte "Lebensraum" erobern, Siedlungsgebiete für die Deutschen schaffen, der einheimischen Bevölkerung war allenfalls die Rolle von Sklaven zugedacht – Hitlers Ziel: Ein Imperium bis zum Ural. Die Deutschen wurden propagandistisch eingestimmt, Gertrud Weyl indes erinnert sich noch mit Schaudern an die Presse- und Rundfunkberichte, in denen Russen, Ukrainer und andere Völker Osteuropas verunglimpft und ihrer Menschenwürde beraubt wurden. Russland, so sagt sie, sei für ihre Generation ein völlig unbekanntes Territorium gewesen. Was den Bewohnern dort angetan wurde hat Gertrud Weyl nach dem Krieg erst allmählich erfahren. Manchmal - so sagt sie - könne sie, wenn sie daran denke, das Ausmaß der Greuel heute noch nicht fassen.
Millionen Opfer
Die Ukraine, Weißrussland und die baltischen Staaten wurden einfach überrannt. Im Herbst 1941 freilich zeichnete sich vor Moskau bereits die Niederlage der Wehrmacht ab, die für den russischen Winter nicht ausgerüstet war und den Überlebenswillen der sowjetischen Soldaten unterschätzt hatte. Dieser Krieg hat Millionen Opfer gefordert. Nicht nur unter den deutschen Soldaten und Offizieren. Den höchsten Preis an Menschenleben zahlte die damalige Sowjetunion: Soldaten, die im Kampf getötet wurden, Kriegsgefangene, die in deutschen Lagern verhungerten oder an Krankheiten zugrunde gingen, Zivilbevölkerung, osteuropäische Juden, die von den deutschen Einsatzgruppen – oft unter den Augen oder mit Hilfe der Wehrmacht - systematisch ermordet wurden. Heute geht man von 27 Millionen Toten aus.
Legendenbildung
Jahrzehntelang war die deutsche Verantwortung für den Vernichtungskrieg im Osten kein Thema in der öffentlichen Auseinandersetzung. Man erinnerte sich vor allem an das eigene Leid. Hartnäckig hielt sich zudem die Legende von der "sauberen Wehrmacht", die Verantwortung für die Verbrechen wurde auf nationalsozialistische Organisationen wie die SS abgeschoben. Empathie für die unermesslichen Opfer auf sowjetischer Seite hat es in der deutschen Bevölkerung lange nicht gegeben. Erst die Forschungen kritischer Historiker, Mitte der 1990er Jahre dann auch die viel diskutierte und umstrittene Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, haben einen Prozess des Umdenkens eingeleitet. Die deutsch-russischen Beziehungen heute sind nicht mehr von den Geschehnissen des "Unternehmen Barbarossa" getrübt.
Gertrud Weyl wird im Juni 2011 neunzig Jahre alt. Sie findet, dass sich von den Jüngeren zu wenige für die Zeit zwischen 1933 und 1945 interessieren und sagt: "Ich bin froh, dass ich jetzt mit Familie und Freunden noch mal darüber reden kann. Für mich ist die schreckliche Vergangenheit immer nah gewesen".
Autorin: Cornelia Rabitz
Redaktion: Gudrun Stegen