Die Rolle Deutschlands beim Genozid in Ruanda
20. Juni 2015Am 6. April 1994 schossen Unbekannte das Flugzeug ab, in dem der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana saß. Sein Tod war der Startschuss für einen Völkermord, bei dem radikalisierte Hutu rund 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu regelrecht abschlachteten. Zeichen dafür, dass die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi eskalieren könnten, gab es jedoch schon lange vor diesem Tag.
In ihrem Untersuchungsbericht, den sie 1999 im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verfasst hatten, formulieren Jürgen Wolff und Andreas Mehler schwere Vorwürfe an die deutsche Politik: "Schon allein die Tatsache, dass die deutsche Seite von dem Ausbruch des Bürgerkrieges und dem Ausbruch des Genozids trotz zahlreicher Warnzeichen vollständig überrascht wurde, belegt zur Genüge, dass es bei Konflikterkennung und Informationsfluss zu schwerwiegenden Defiziten gekommen ist," schreiben die Autoren. Die Frage, warum Deutschland politisch oder entwicklungspolitisch kaum reagiert habe, erkläre sich sehr einfach: "Reaktion setzt Kenntnis voraus - und diese fehlte! Zum Teil ist dies auf die Nicht-Weitergabe von Informationen zurückzuführen, die nachweislich vor Ort vorhanden waren." Ein fatales Zeugnis, das so nie veröffentlicht wurde. Der Bericht verschwand im Keller des Ministeriums.
"Dass es knallte, bekam man mit"
Die Bundesrepublik Deutschland war in dem kleinen afrikanischen Land sehr präsent. Neben der deutschen Botschaft waren der Deutsche Entwicklungsdienst DED und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), heute GIZ, mit etlichen Projekten im ganzen Land aktiv. Die Bundeswehr unterhielt bereits seit 1976 enge Kontakte. Ruanda war Empfängerland im Rahmen des Ausstattungshilfeprogramms der Bundesregierung für ausländische Streitkräfte. Eine Beratergruppe der Bundeswehr war darüberhinaus vor Ort und arbeitete eng mit dem ruandischen Militär zusammen.
Bereits im Oktober 1990 verschlechterte sich die Sicherheitslage in Ruanda. Die Ruandische Patriotische Front (FPR) unter Tutsi-Rebellenführer Paul Kagame marschierte von Uganda aus nach Ruanda ein. Die Zeichen im Land wiesen auf eine Eskalation hin, wie sich Pfarrer Jörg Zimmermann erinnert, der von 1991 bis 1994 in Ruanda lebte. "Dass es knallte, bekam man mit", so Zimmermann. Überfälle, Granateneinschläge, gezielte Mordaktionen: "Die Kriminalität nahm Ausmaße an, die auch das traditionelle Ruanda so nicht kannte."
Warnungen an die deutsche Botschaft
Zimmermann schickte damals regelmäßig einen Rundbrief an Unterstützer in Deutschland. Mehrere hundert Adressaten waren im Verteiler des Pfarrers, der Kinyarwanda spricht und die lokalen Medien, wie das Hetzblatt Kangura las und den Radiosender RTLM mithörte, der Hassreden gegen Tutsi verbreitete. Seine Eindrücke und seine Einschätzungen gab er auch an den deutschen Botschafter weiter. In einem dieser Briefe, verfasst im Februar 1994 hieß es: "In einer der letzten Ausgaben hat Kangura gar die Ermordung des Präsidenten für März 1994 vorausgesagt. (…) Nicht auszudenken, was wäre, wenn Habyarimana tatsächlich was passierte."
Ab dem Herbst 1993 wurde es immer offensichtlicher, dass eine Katastrophe in Ruanda bevorstand. Reinhard Bolz, der seit 1989 für die GTZ als Regierungsberater in Ruanda tätig war, bekam die Ereignisse hautnah mit: "Das ging 1993 so weit, dass zum Beispiel Wachposten von uns ermordet wurden. Es hieß dann, Angehörige der Armee oder der Interahamwe-Jugendbanden hätten sie umgelegt." Bolz und seine Kollegen hätten solche Vorkommnisse stets der deutschen Botschaft und dem Entwicklungsministerium (BMZ) gemeldet. "Wir haben darum gebeten, dass das BMZ das bei den nächsten Regierungsgesprächen deutlich ansprechen sollte, dass sie so etwas nicht dulden könnten, und dass wir auch notfalls abziehen würden, wenn es hier weiterhin Unruhen gäbe und unsere eigenen Leute ermordet werden. Wir haben mehrfach den Wunsch geäußert, dass wir ein politisches Signal setzten sollten."
Kein Vermerk in den Botschaftsunterlagen
Doch nichts geschah: Weder die Berichte des Pfarrers, noch die von GTZ-Mitarbeitern, von Hilfsorganisationen oder von Angehörigen der Bundeswehr führten zu einem Umdenken. Schlimmer noch: In Botschaftsunterlagen finden sich keinerlei Informationen über die drohende Gefahr. Erst Anfang April 1994 wird zum ersten Mal die radikale Hutu-Jugendorganisation Interahamwe in den Papieren erwähnt.
Deutschland versteckte sich hinter einer gemeinsamen europäischen Linie, die es nie gab. Und der deutsche Botschafter Dieter Hölscher, der in Ruanda seinen letzten Posten vor der Pensionierung hatte, wiegelt noch heute ab: "Sehen konnte man das nicht, das war immer fern von der Hauptstadt. Man hörte von rebellischen Vorfällen mit zwei, drei Toten, aber nicht im größeren Maße, so wie es dann später war", so Hölscher. "Das waren aber alles eigentlich Einzelfälle. Bis zu diesem 6. April gab es nichts im größeren Maße."
Aufarbeitung stockt noch immer
Mit dem Abschuss der Präsidentenmaschine während des Landeanflugs auf den Flughafen Kigali am 6. April 1994 begann das offene Morden. Unmittelbar danach wurden die ersten Straßenblockaden errichtet, die Hutu-Milizen der Interahamwe zogen zu den Häusern der gemäßigten Hutu und zu den Tutsi. "Überraschend war, dass die Hutu-Regierung gar nicht lange zu überlegen brauchte, was sie als nächstes tun sollte", erinnert sich Ex-Botschafter Hölscher. "Die hatten offenbar alles vorbereitet. Wir konnten das von unserer Residenz aus sehen: Auf der Straße waren diese jungen Männer mit weißen Hemden und dunklen Hosen und mit Zetteln in der Tasche, die zu verschiedenen Häusern gingen und Leute rausholten."
Eine breite Aufarbeitung der Vorkommnisse in Ruanda gibt es von offizieller deutscher Seite bislang nicht. Unterlagen, Berichte und Protokolle aus dieser Zeit lassen sich weder im Verteidigungsministerium noch in der Zentrale der GIZ, der Nachfolgeorganisation von GTZ und DED finden. Anfang Mai legten die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke dem Bundestag einen Antrag vor, der eine umfangreiche Aufarbeitung der Vorkommnisse in Ruanda verlangt. Der Antrag wird derzeit im Menschenrechtsausschuss geprüft.
Das Auswärtige Amt wird seine Akten erst im Jahr 2024 zugänglich machen. Dann ist die 30-jährige Sperrfrist abgelaufen.