Bolivien versinkt vor den Wahlen in Gewalt
24. September 202020. September, La Paz - Miguel Roca, Politiker der Partei Comunidad Ciudadana, wird im Süden der Metropole mit Steinen beworfen. Am selben Tag werden Anhänger der Partei Movimiento al Socialismo in Santa Cruz mit Schlägen daran gehindert, eine Wahlkundgebung durchzuführen. In Oruro hatten sich tags zuvor Sympathisanten beider Parteien eine wahre Straßenschlacht geliefert. Genau dort, wo auch Luis Fernando Camacho von der Partei Creemos am 17. September auch Ziel von Steinwürfen war. Willkommen im bolivianischen Wahlkampf 2020 - einen Monat vor dem Urnengang am 18. Oktober fallen auf allen Seiten jegliche Hemmungen.
Nach den umstrittenen Wahlen vom Oktober 2019 waren mindestens 35 Menschen gestorben, über 800 verletzt worden. Mittlerweile muss man befürchten, dass es auch in knapp vier Wochen blutige Unruhen mit zahlreichen Opfern geben wird - zu tief sind die politischen und gesellschaftlichen Gräben, zu vergiftet das Klima. Sogar die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und die bolivianische Wahlbehörde haben nun alle politischen Akteure und Anhänger eindringlich dazu aufgerufen, der Gewalt abzuschwören.
Bolivien Musterbeispiel einer polarisierten Gesellschaft
Für die ganze Welt lohnt sich ein Blick nach Bolivien, denn dort zeigt sich gerade, was passiert, wenn ein Land fast 14 Jahre lang von einem Präsidenten wie Evo Morales regiert wird, der politische Gegner mit allen Mitteln ausschaltet, Meinungsfreiheit missachtet und immer mehr zum linken Autokraten wird.
Und der dann unter dubiosen Umständen von einer rechten Machtclique mit Interimspräsidentin Jeanine Áñez abgelöst wird und nun aus dem argentinischen Exil die Wahlen verfolgen wird. Áñez verfährt jetzt nach dem Motto "Auge um Auge - Zahn um Zahn", eine Hetzjagd auf Morales-Anhänger veranstaltet und nicht davor zurückschreckt, den Amtsvorgänger wegen Terrorismus anzuklagen. Das Resultat: Chaos, Unruhen, Staatskrise.
Es ist in diesen Zeiten fast unmöglich, jemanden zu finden, der eine neutrale, unverstellte Sicht auf Bolivien hat. Cesar Muñoz ist so jemand. Der gebürtige Spanier arbeitet seit sechs Jahren für die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch und kennt Bolivien wie seine Westentasche. "Justiz als Waffe - politische Verfolgung in Bolivien" heißt sein aktueller Bericht, der schonungslos offenlegt, dass Bolivien gerade auf dem besten Weg zurück in die Steinzeit ist.
Sein Fazit nach 90 Interviews mit Politikern, Menschenrechtlern und Zeugen von Gewalttaten: "Was Bolivien braucht, ist eine Justizreform. Eine unabhängige Justiz muss her, die nicht dazu da ist, politische Gegner zu verfolgen und die nicht als politische Waffe instrumentalisiert werden darf."
Der Anteil von Evo Morales an der aktuellen Situation
Der überzeugte Sozialist Evo Morales wird es nicht gerne hören, aber die Parallelen zu den ihm verhassten USA sind offensichtlich: Wie Trump hat auch Morales vor den Wahlen eine vollkommen polarisierte Gesellschaft hinterlassen, wo sich Rechte und Linke unversöhnlich gegenüberstehen. Wo jahrelang das Motto gilt: Wer nicht mein Freund ist, ist mein Feind. Wo die kritischen Medien gegängelt und als Lügenpresse diffamiert werden.
Und wo - wie jetzt auch in den Vereinigten Staaten - die Justiz als Hebel genutzt wird, um die eigene Macht auszubauen. "Evo hat die Justiz systematisch geschwächt und die wichtigsten Posten immer mit seinen Gefolgsleuten besetzt", sagt Cesar Muñoz, "er hat die Presse ohne Grund permanent attackiert und die Rechte der Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsaktivisten eingeschränkt."
Jeanine Áñez entscheidet sich für Vergeltung
Jeanine Áñez, die sich am 12. November 2019 zur Übergangspräsidentin erklärte, hatte die große Chance, es anders zu machen: die Vergangenheit ruhen lassen, die Menschenrechte wahren und die Unabhängigkeit der Justiz stärken. Doch die rechtskonservative, vormals zweite Vizepräsidentin des Senats entschied sich lieber dafür, es Morales und seinen Anhängern mit gleicher Münze zurückzuzahlen.
Und noch ein bisschen mehr: Áñez startete einen Rachefeldzug ohne die geringste Rücksicht auf Verluste. Sinnbildlich dafür steht der Fall von Patricia Hermosa, den Human Rights Watch akribisch nachverfolgte - und der für Muñoz eine "absurde und unfassbare Folge von Menschenrechtsverletzungen" ist.
Die ehemalige Kabinettschefin und Anwältin von Morales wurde wegen des Verdachts auf Terrorismus, Terrorismusfinanzierung und Aufruhrs ins Gefängnis gesteckt. Ihr einziges Vergehen: ein Telefonat mit Evo Morales. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung war Hermosa schwanger - und hätte damit laut bolivianischer Gesetzgebung nicht in Haft sein dürfen. Ohne jegliche medizinische Hilfe verlor sie im Gefängnis ihr Kind. Die Justiz ließ sie auch dann nicht ziehen, die zynische Begründung des Richters: Hermosa sei ja jetzt nicht mehr schwanger.
Terrorismusverdacht gegen Morales völlig überzogen
Cesar Muñoz kämpfte sich auch Blatt für Blatt durch die 1500 Seiten dicke Anklageschrift gegen Evo Morales wegen des Vorwurfs von Terrorismus und Terrorismusfinanzierung. "Wir haben die Beweise gezählt, dass er diese terroristischen Straftaten begangen hat: es sind genau Null! Alles basiert auf einer privaten Unterhaltung, in der Morales in der Tat beunruhigende Sachen sagt. Aber dass er dafür 20 Jahre hinter Gitter soll? Das ist vollkommen unverhältnismäßig."
Übergangspräsidentin Áñez erließ gleich nach Amtsantritt ein Dekret, das die Streitkräfte bei Gewaltexzessen gegen Demonstranten von jeglicher Verantwortung freisprach. Die Nachforschungen, wer die vielen Toten vom Oktober und November 2019 auf dem Gewissen hat, kamen in einem knappen Jahr kein Stückchen weiter.
Stattdessen hält die Regierung weiterhin an ihrer offiziellen Version fest, dass Demonstranten sich gegenseitig umgebracht hätten - obwohl bei den Toten keine Waffen gefunden wurden. Dutzende Zeugenaussagen, dass Staatsbedienstete die Täter waren, wurden geflissentlich ignoriert.
Jeanine Áñez konnte es auch nicht lassen, bei ihrem Rücktritt von der Kandidatur noch weiter Öl ins Feuer zu gießen. Sie warnte vor dem Verlust der Demokratie und der Rückkehr zur Diktatur von Evo Morales. Bolivien, das mit über 7600 Corona-Todesfällen und einem überforderten Gesundheitssystem noch ganz andere Probleme hat, zählt mit Schrecken die Tage zu den Wahlen. Es sind noch 25 - und kein Frieden in Sicht, nirgends.