"Russland wird wie von einem Khan regiert"
11. Mai 2016Deutsche Welle: Herr Akunin, Sie haben mehrfach erklärt, Russland verlassen zu haben, weil das Land von einem Feind besetzt ist. Wer ist dieser Feind?
Boris Akunin: Ich bin fest davon überzeugt, dass die aktuellen politischen Machthaber mein Heimatland in den Untergang führen. Deswegen betrachte ich sie als meine Feinde.
Vor einigen Jahren haben Sie aber auch gesagt, in Russland geschähe nichts Tragisches.
Ich lag falsch. Zwischen 2011 und 2013 habe ich mich gesellschaftlich sehr engagiert. Ich hatte gedacht, die russische Zivilgesellschaft sei stark genug, und die Staatsmacht weise genug, eine fatale Konfrontation zu vermeiden. In Russland hat sich alles verändert nach den Ereignissen in der Ukraine im Jahr 2014. Wladimir Putin hat eine Entscheidung getroffen, die man nicht rückgängig machen kann. Für Russlands Position in der Welt bedeutet das eine zunehmende Isolation des Landes. Und in Russland bedeutet das für ihn Regieren auf Lebenszeit. Ein Rücktritt ist unmöglich. Dies ist jetzt ein völlig anderer Staat.
In den 1980er Jahren haben die meisten Russen dem, was im Fernsehen verkündet wurde, nicht geglaubt. Heute glauben ihm fast alle. Wie konnte sich das öffentliche Bewusstsein so verändern?
Sie haben die Zeit der Perestroika schon miterlebt, als frischer Wind in die Köpfe der Menschen kam. Aber ich erinnere mich noch an die 1970er Jahre. Es gab nur Dissidenten, Menschen, die wie heute in Moskau, vereinzelt Plakate hochhalten und von den Passanten nicht beachtet werden. Aber solange es solche Menschen gibt, besteht Hoffnung auf einen Wandel.
Heute gibt es viele Informationsquellen, vor allem das Internet. Wenn man sich für andere Meinungen interessiert, hat man die Möglichkeit dazu. Aber bei den meisten Menschen besteht kein Verlangen danach. Das Problem ist ein anderes: Das heutige politische Regime in Russland. Es ist - abgesehen von moralischen, ideologischen und anderen Aspekten - katastrophal uneffektiv und nicht wettbewerbsfähig. Es kann in der heutigen Welt technologisch und wirtschaftlich nicht mithalten. Die Welt entwickelt sich weiter und Russland tritt auf der Stelle. Das ist das Problem. Leider wird es mit der Verarmung der gesamten Bevölkerung und einer soziale Explosion enden.
Ist es nicht schon eine historische Gesetzmäßigkeit geworden, dass Russland immer wieder zurückbleibt?
Mich hat schon immer die Frage beschäftigt, was den russischen Staat im Wesentlichen ausmacht. Warum wiederholen sich über Jahrhunderte die gleichen Katastrophen? Jeder Versuch einer Liberalisierung endet mit noch größeren Repressionen. Ich glaube, dass Wladimir Putin nicht persönlich daran schuld ist. Ich denke, er wollte damals gar nicht alle Freiheiten abschaffen und Diktator auf Lebenszeit sein. Wahrscheinlich wollte er zunächst die Oligarchen zügeln und irgendwie mit den Separatisten fertig werden. Er hatte bescheidene Ziele.
Aber dann entfalteten gewisse Gesetzmäßigkeiten ihre Kraft, und es passierte das, was schon viele Male zuvor in der russischen Geschichte passiert ist. Sollte es morgen in Russland zu einer, Gott bewahre, friedlichen Revolution kommen und Putin gestürzt werden, und irgendein neuer Demokrat an die Macht käme an dich Macht: Dieser Demokrat würde nach einer Weile wieder zu einem Diktator werden, würde er alles beim Alten belassen. Die vertikale Struktur des Staates bietet keine Möglichkeit, sich in eine andere Richtung zu bewegen.
Also ist nicht eine bestimmte Person, sondern das System das Problem. Ist es realistisch, das System zu verändern?
Natürlich ist es realistisch. Erstaunlicherweise hat sich in unserer Geschichte noch kein Reformer das Fundament des Staates vorgenommen, das im 15. Jahrhundert von Iwan III., der Russland geeint hat, gelegt wurde. Er hatte das Prinzip übernommen, nach dem der Staat der Goldenen Horde aufgebaut worden war. Zu dieser Zeit kannten die Russen kein effektiveres System als den Staat von Dschingis Khan. Nach wie vor wird unser Land nicht nach Gesetzen regiert, sondern per Dekrete des großen Khans. Zugleich ist es ein System, wo der Staat nicht dem Volk dient, sondern die Menschen dem Staat. Da ist kein Platz für die Rechte des Einzelnen. Es gibt nur persönliche Privilegien, die von der Position in dieser Struktur und dem Grad der Loyalität gegenüber der Obrigkeit abhängen. Und schließlich ist die Geheimpolizei in diesem System von großer Bedeutung.
Dennoch ist die Person Putin heute in diesem System wichtig. In früheren Interviews haben Sie gesagt, Putin sei kein Dieb und Verbrecher. Sind Sie immer noch dieser Meinung?
Putin durchläuft eine Evolution. Man braucht eine krankhafte Gier, um Milliarden zu schlucken. Korruption bedeutet aber nicht ausschließlich Diebstahl. Korruption ist der Verfall eines Staatssystems auf unterschiedlichste Art und Weise. Wenn man seinen Freunden Privilegien gewährt, ist das Korruption. Wenn man Personen deckt, mit denen man sympathisiert, damit sie nicht für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden, ist das Korruption. Wenn man einen Schattenhaushalt führt, ist das auch Korruption.
Das Gespräch führte Zhanna Nemzowa
Der russische Schriftsteller und Putin-Kritiker Georgij Tschchartischwili, bekannt unter dem Pseudonym Boris Akunin, hat Russland im Jahr 2014 verlassen. Derzeit arbeitet er an einer "Geschichte des russischen Staates". Zhanna Nemzowa, Tochter des im Februar 2015 ermordeten russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow, ist seit August 2015 Reporterin in der Russisch-Redaktion der DW in Bonn.