Eine Lehrstunde in Wembley
13. Februar 2019Kein Applaus, ein stiller Abgang. Als dieser besondere Arbeitstag von Jadon Sancho nach 87 Minuten vorzeitig endet, bekommt das kaum einer mit. Während das 18-jährige Supertalent der Borussia vom Platz trabt, bejubelt der Großteil der Zuschauer im Wembleystadion gerade noch das 3:0 von Tottenham Hotspur, das Fernando Llorente geköpft hat. Und in der Dortmunder Fankurve herrscht Fassungslosigkeit. Nach einer guten ersten Halbzeit zerfällt der BVB wie schon gegen Hoffenheim in der Schlussphase und verliert das Achtelfinal-Hinspiel mit 0:3 (0:0). Eigentlich gibt es kaum noch Hoffnung für Dortmund, doch Jadon Sancho verspricht kämpferisch für das Rückspiel: "Wir werden versuchen, viele Tore zu schießen."
Ein trotziger Schlusston eines Abends, der ein besonderer für ihn hätte werden sollen. Geboren und aufgewachsen in London war es der erste berufliche Ausflug mit seinem Arbeitgeber in seine Heimat. Auf den Straßen von London lernte er das Fußballspielen, als große Attraktion des Dortmunder Spiels kehrt er zurück - und mit dabei viele Gefühle. "Ich bin sehr glücklich, dass ich vor den Augen meiner Familie spielen konnte, das bedeutet mir viel. So oft können sie mir nicht zuschauen", wird Sancho nach dem Spiel sagen. Die Rückkehr in seine Geburtsstadt wird begleitet von großen Hoffnungen: Der junge Sancho soll das Team von Borussia Dortmund, dem wichtige Spieler verletzt fehlen, zum Sieg führen.
Sanchos einzigartige Bilanz
Eine Verantwortung, die offenbar schwer wiegt. Zu Beginn fehlt Sancho vor 75.000 Zuschauern die gewohnte Präzision. Als ihn Mahmoud Dahoud nach 15 Minuten mit einem kurzen Pass freispielt, legt sich der Engländer den Ball zu weit vor, leichte Beute für Hotspur-Verteidiger Toby Alderweireld. Auch nach 20 Minuten bleibt Sancho erneut auf der rechte Seite hängen, kann aber seine Mitspieler noch bedienen, was ihm auch drei Minuten später dank einiger Haken gelingt. Jeder der Dortmunder Angriffe läuft über ihn, insbesondere jetzt, da Spielmacher Marco Reus verletzt fehlt. Jadon Sancho ist mit seinen 18 Jahren nicht mehr wegzudenken aus dem Dortmunder Spiel. 21 Torbeteiligungen in 29 Pflichtspielen sind der eindrucksvolle Beleg für diese These. Kein anderer Spieler unter 20 Jahren kommt in den europäischen Topligen auf einen ähnlichen Wert.
Diese Zahlen bleiben in der Fußballwelt nicht verborgen. Ganz Europa stürzt sich aktuell auf den jungen Senkrechtstarter der Borussia. Bei einem Medientermin vor einigen Tagen in Dortmund versucht der Verein dem großen Interesse nachzukommen, setzt den sonst gut behüteten Youngster in einige Interviews. Dabei macht Sancho im schwarzen Hoodie und mit silbern-funkelnden Steckern im Ohr klar: Es ist kein Zufall, dass er da steht, wo er jetzt steht. "Es kommt auf die individuelle Leistung an", beantwortet er die Frage, warum gerade er sich durchsetzte und andere Talente nicht. "Man kann die beste Person außerhalb des Platzes sein, muss es jedoch auch auf dem Platz zeigen, das Spiel beeinflussen, das zeigen, was Trainer gerne sehen. Das macht den Unterschied aus." Selbstbewusste Worte eines selbstbewussten jungen Mannes, der schon erstaunlich erwachsen klingt.
Der schwarze Abend des Achraf Hakimi
Und, das versichern sie in Dortmund immer wieder, sei er auch. Sancho zeige keine Allüren, sei familienverbunden und nicht abgehoben. Seinem Vorbild und Ex-Teamkollegen Pierre-Emerick Aubameyang aus Gabun eifert er also nur spielerisch nach. Und doch heißt es bei Jadon Sancho: abwarten. Er steht immer noch ganz am Anfang seiner Karriere.
Abwarten ist nicht seine Sache, zumindest im Spiel. Mit viel Tempo sprintet der dreifache englische Nationalspieler in der 38. Minute Richtung Strafraum, doch kurz vor der Linie wird er von hinten von Moussa Sissoko umgetreten. Klares Foul, doch Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz sieht das anders, auch wenn Sancho wild protestiert. Abgesehen davon ist es bis hierhin ein ausgeglichenes Spiel, bei dem der BVB zur Pause die besseren Chancen, aber eben keine Tore vorweisen kann.
Als Sancho nach der Pause das Feld betritt, motiviert er seine Mitspieler, legt seinen Arm um Thomas Delaney, pusht sich und die anderen. Ein 18-Jähriger, der wie ein erfahrener Kapitän agiert. Und doch ist Dortmund irgendwie noch in der Kabine als Tottenham sofort den Vorwärtsgang einlegt: Nur eine Minute nach Wiederanpfiff wird Achraf Hakimi auf der rechten Abwehrseite unter Druck gesetzt, verliert den Ball und Jan Vertonghen nutzt das zur Flanke in den Strafraum, wo Dan-Axel Zagadou zu weit weg von Heung-min Son steht. Der drückt den Ball relativ mühelos volley ins kurze Eck - 1:0 für die Gastgeber (47.).
Der BVB in Auflösung
Während sich Dortmund von diesem Schock erholen muss, zieht sich Tottenham bei Ballbesitz des BVB nun tief in die eigene Hälfte zurück, macht die Räume eng und der Dortmunder Offensive das Leben damit schwer. Auch Jadon Sancho wirkt nun, ähnlich wie im Bundesliga-Spiel gegen Hoffenheim, nicht mehr so spritzig und ideenreich. Tottenhams Verteidiger tackeln ihn mehr, rauben ihm damit seine schärfst Waffe: die Schnelligkeit. "In der zweiten Halbzeit haben wir den Fokus verloren", analysiert Sancho später. Die Londoner reißen das Spiel an sich, kontrollieren den Ball und bringen die Führung über die Zeit. Und wie: Weil Weltmeister Mario Götze den Ball nicht halten kann, bekommt Sissoko die Chance zur Flanke, die der in Halbzeit zwei überragende Vertonghen direkt zum 2:0 verwertet (83.). Erneut ein Volleytor, erneut sieht Hakimi dabei nicht gut aus. Und damit ist noch nicht Schluss: Nach einer Ecke steigt Fernando Llorente hoch und köpft mühelos zum 3:0 ein (86.): die junge BVB-Elf in Auflösung.
Als Jadon Sancho ausgewechselt wird, ist das Schicksal der Borussia entschieden. Das 0:3 ist eine riesige, sehr wahrscheinlich zu große Hypothek für das Rückspiel am 5. März in Dortmund. Der Abend in Wembley gerät zur Lehrstunde für den BVB. Und sie wissen, wo das Problem liegt: "In der zweiten Halbzeit hatten wir fast keine Chancen. Immer wenn es gegen robuste Mannschaften geht, haben wir unsere Schwierigkeiten", stellt Torwart Roman Bürki fest. "Wir setzen uns zu wenig durch, wir müssen rigoroser verteidigen." In der Bundesliga begeisterten sie bisher mit spielerischer Schönheit und Tempo, nun zeigt sich, was der jungen BVB-Elf noch zu einer Weltklassemannschaft fehlt: Cleverness und physische Stabilität.