Bosporus-Uni kämpft um ihre Freiheit
6. Januar 2021In Istanbul geht die Polizei weiter gegen Studenten vor, die in den vergangenen Tagen gegen die Ernennung des neuen Direktors Melih Bulu der international angesehenen Bogazici-Universität (Bosporus-Universität) demonstriert haben. Laut türkischen Medienberichten wurden bei den Zusammenstößen mit der Polizei 17 Studenten festgenommen. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch kam es zu weiteren Festnahmen.
Die Istanbuler Polizei führte in den frühen Morgenstunden Razzien in sechs Wohnungen durch und nahm Personen fest, die im Zusammenhang mit den Protesten standen. Nun hat der Gouverneur von Istanbul auch Demonstrations- und Versammlungsverbote für die Stadtteile Besiktas und Sariyer ausgesprochen, die sich in der Nähe der Universität befinden und ein beliebtes Wohngebiet für Studenten sind.
"Bogazici leistet Widerstand"
Wie in der jüngsten Vergangenheit bereits häufig vorgekommen, mobilisieren sich die Demonstranten über die sozialen Netzwerke. #KabulEtmiyoruzVazgecmiyoruz (zu deutsch: Das akzeptieren wir nicht, wir lassen nicht nach) und #BogaziciDireniyor (Bogazici leistet Wiederstand) sind die Hashtags, die auf Twitter viral gingen. Unter dem Kürzel kursieren zahlreiche Videos, die zeigen, wie die Polizei die versammelten Studenten mit Tränengas und Plastikgeschossen von dem Eingangstor der Universität wegdrängt.
Die Bogazici-Universität gilt als eine der renommiertesten Lehreinrichtungen der Türkei. Die Liste der namhaften Absolventen aus Kunst, Politik und Wirtschaft, die auf der Eliteuniversität studiert haben, ist lang.
Eine Besonderheit ist die internationale Ausrichtung: Die Universität ging 1971 aus dem 1863 gegründeten Robert College hervor, der ersten US-amerikanischen Hochschule außerhalb der Vereinigten Staaten. Der Ausländeranteil ist für türkische Verhältnisse sehr hoch, die Unterrichtssprache ist Englisch.
Kaum verwunderlich also, dass die Universität in der Türkei als liberale Hochburg schlechthin gilt. Ein Umstand, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan anscheinend ändern wollte: Per Notstandsdekret ernannte er am Samstag kurzerhand einen neuen Direktor.
Parteikader und Finanzwissenschaftler
Erdogan entschied sich für den 51-jährigen Melih Bulu, Gründungsmitglied der AKP in dem Istanbuler Stadtteil Sariyer, und Professor für Finanzwissenschaft der Halic-Universität, einer kleinen privaten Hochschule in Istanbul. Bulu wollte bei den Wahlen 2015 für die AKP kandidieren, wurde jedoch nicht aufgestellt.
Hauptkritikpunkt der Studenten und Lehrkräfte ist, dass die Ernennung von Bulu ein Eingriff in die akademische Freiheit sei und gegen demokratische Werte verstoße. Die Assistenzprofessorin Seda Altug kritisiert, dass sich durch die präsidentielle Entscheidung die Atmosphäre an der Bogazici radikal verändern könnte. "Es sollte jemand von Innen ernannt werden. Jemand, der unsere Gesetze und Praktiken kennt. Lassen Sie uns diesen Geist weiterleben."
Der emeritierte Professor Faruk Birtek, der 40 Jahre an der Bogazici-Uni tätig war, geht davon aus, dass seine alte Wirkungsstätte für Erdogan schon immer ein Dorn im Auge war. "Wir sind eine dem Westen gegenüber offen eingestellte Universität. Erdogan kann damit nichts anfangen. Die Mehrheit der Studenten dieser Universität stammt von konservativen anatolischen Familien - wir haben sie durch unsere Erziehung bereichert". Diese Weltoffenheit störe Erdogan gewaltig, so Birtek.
Erdogans Unterschrift reicht aus
Die Intervention per Dekret an der Bogazici-Universität ist kein Präzedenzfall: Einen Tag vor der Berufung von Melih Bulu ernannte Erdogan an fünf weiteren Universitäten Direktoren. Bereits letztes Jahr wurden auf Anweisung des Präsidenten an 21 Universitäten Direktoren durchgesetzt. Seit dem Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im Juli 2016 reicht für eine solche Maßnahme die Unterschrift des Präsidenten.
Bülent Kücük, Professor für Soziologie an der Bogazici-Universität sieht in der Ernennung von Hochschul-Direktoren mit regierungsnaher Grundhaltung "eine zunehmende Politisierung des Universitätsbetriebs". Es sei ein Hinweis auf einen zunehmend autoritären Zentralismus. Kücük: "Langfristig wird so die Freiheit in der akademischen Forschung und Lehre geraubt".
Birtek hingegen sieht die präsidentielle Dekret-Politik nicht nur als Gefahr für die akademische Welt. Man müsse sie als türkisches Gesamtproblem betrachten. "Heutzutage werden Hunderte von Bürgermeistern (im Südosten der Türkei) von Zwangsverwaltern ersetzt. Millionen von Wahlstimmen wurden ignoriert. Es gibt ein totalitäres Regime, in dem diejenigen, die der AKP die Treue schwören, die Führung übernehmen."
Studenten: "Wir wollen keinen Zwangsverwalter"
Der türkische Präsident Erdogan ließ in den vergangenen Jahren per Notstandsdekret zahlreiche Bürgermeister und Gemeindevorstände der pro-kurdischen Partei HDP im Südosten der Türkei absetzen - viele der Abgesetzten sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Die Entlassungen begründete das Innenministerium damit, dass die Bürgermeister Kontakt zu Terrororganisationen gehabt hätten - die Beweislage ist jedoch in den meisten Fällen dürftig.
Die Lokalpolitiker wurden schließlich von Zwangsverwaltern aus Ankara ersetzt. Diesem Schicksal wollen sich die Studenten der Bogazici-Universität nicht fügen: "Wir wollen keinen Zwangsverwalter-Direktor", lautet der meist zitierte Slogan der protestierenden Studenten.