Boykottaufrufe gegen Israel an türkischen Schulen
4. Januar 2024Früh übt sich - oder, wie man im Türkischen sagt: "Der Baum beugt sich, wenn er noch jung ist." Dieses Prinzip wird in einigen türkischen Schulen derzeit auf den Nahost-Konflikt angewandt. Es gibt mittlerweile Fälle, die zeigen, wie pro-palästinensische und anti-israelische Propaganda Einzug in den Unterricht an türkischen Schulen erhalten hat. Betroffen sind Mittelschulen und damit Schüler, die zwischen 10 und 13 Jahre alt sind.
Mehreren Medienberichten und öffentlichen Posts zufolge werden die Schüler in einigen Mittelschulen zum Boykott israelischer Produkte aufgerufen. In einer Schule in der osttürkischen Stadt Elazig zeigte ein großes Schild mit dem Slogan "Wir machen mit beim Boykott" Produkte aus Ländern, die angeblich Israel unterstützen und "Großkonzerne, die die Welt ausbeuten".
In der westtürkischen Stadt Edirne fand in einer Schule eine Präsentation über Produkte statt, die boykottiert werden sollen. Bei der Veranstaltung ging es auch um die Frage, "was man für die palästinensischen Brüder tun" könne.
In einer Schule in Istanbul wurde den Schülern ein Animationsfilm von 2018 gezeigt, der die Geschichte eines Mädchens erzählt, das während des israelisch-palästinensischen Konfliktes auf die Welt kam. Für den Film mit dem Titel "Turm“ gilt die Altersgrenze 13 - trotzdem wurde er auch jüngeren Kindern gezeigt.
Zusätzlich dazu werden in einzelnen türkischen Schulen mehrere Vorträge um das Thema Palästina gehalten. Einige davon trugen harmlose Titel wie "Jerusalem und unsere Werte" oder "Jerusalem: Von gestern bis heute".
Auch wenn diese Aktivitäten auf den ersten Blick vollkommen neutral wirken, scheint dabei eine anti-israelische Haltung den Kern der Diskussion dargestellt haben.
In der Türkei ist Politik in der Schule eigentlich ein Tabu: Es ist verboten, politische Botschaften zu vermitteln oder überhaupt über Politik zu diskutieren. Auch die Zeitgeschichte ist im türkischen Lehrplan nicht zu finden: Der Geschichtsunterricht endet mit der Gründung der Republik im Jahr 1923. Vor diesem Hintergrund ist es ein neues Phänomen, dass ein zeitgeschichtlich-politisches Thema Einzug in Schulen erhält.
Religiöse Werte im Vordergrund
Die Vermittlung von solchen politischen Positionen und Botschaften sind im Rahmen des Projekts "CEDES" - eine Abkürzung des Satzes "Ich bin mir meiner Umwelt bewusst und ich stehe für meine Werte" - möglich geworden. Das Projekt macht Ausnahmen von der wertfreien Bildung möglich - wie zum Beispiel Boykottaufrufe gegen Israel oder israelkritische Filme. Es wird vom Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Jugend und Sport sowie dem Präsidium für Religionsangelegenheiten, Diyanet, durchgeführt. Viele Türken kritisieren, dass die Diyanet die Bildung mitbestimmen darf.
Das offizielle Ziel des CEDES-Projekts ist, dass sich die Schüler mit den "nationalen, moralischen, menschlichen, geistigen und kulturellen Werten" identifizieren und diese "in ihren eigenen Leben einbauen". Durch dieses Projekt dürfen Imame in Schulen als "geistliche Berater" arbeiten. Berichten von Teilnehmern zufolge besuchten Kinder im Rahmen des Projekts Moscheen und sie reinigten Grabsteine, was dem säkularen Bildungsplan widerspricht.
Spitze des Eisbergs?
Obwohl das CEDES-Projekt in der Öffentlichkeit bekannt ist, ist über seinen Inhalt wenig bekannt. In wie vielen Schulen das CEDES-Projekt umgesetzt wird und wie viele Veranstaltungen in diesem Rahmen stattfinden, ist unklar. Das Bildungsministerium veröffentlicht bisher keine Daten dazu und den Bildungsgewerkschaften liegen auch keine Zahlen und Fakten vor.
Die Öffentlichkeit erfährt nur von Aktivitäten im Rahmen des CEDES-Projekts, wenn jemand etwas darüber in den sozialen Medien veröffentlicht.
"Werden eine religiöse Jugend erziehen"
Experten werfen der Regierung vor, die Schulen zu politisieren. Sie sehen das CEDES-Projekt als ein Ausdruck der religionsgeprägten Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erdogan versprach 2012: "Wir werden eine religiöse Jugend erziehen."
Die Türkei hat sich im gegenwärtigen Nahost-Konflikt eindeutig gegen Israel positioniert. Bereits wenige Tage nach dem Angriff der vom Westen als Terrororganisation eingestuften Hamas ergriff Ankara Partei für die Palästinenser. Erdogan warf Israel "Kriegsverbrechen" vorund erklärte, die Hamas sei keine Terrororganisation. Die Aussöhnungsversuche zwischen Erdogan und Israels Premier Benjamin Netanjahu, die kurz vor dem Hamas-Angriff stattgefunden hatten, sind praktisch vergessen. Mehrere pro-palästinensische Demos fanden im Land statt, auch Präsident Erdogan nahm an einigen persönlich teil. Auch am ersten Tag des Jahres fand im Zentrum Istanbuls eine Demo statt, die den Titel trug: "Gnade für unsere Märtyrer, Unterstützung für Palästina, Verdammung für Israel". Erdogans Sohn, Schwiegersöhne und ehemalige Minister nahmen daran teil.
"Die Regierung untergräbt den Laizismus"
Kadem Özbay, Präsident der Bildungsgewerkschaft Egitim-Is, fürchtet, dass vor allem die Boykottaufrufe, die im Rahmen des CEDES-Projekts in die Schulen kamen, zu einer Polarisierung unter den Kindern führen könnten - wenn die eine Hälfte Israel boykottiert und die andere nicht.
Nach seiner Meinung wird mit dem CEDES-Projekt der Lehrerberuf entwertet. Das Projekt sei ein neues Beispiel für die "anti-republikanische Haltung" der Regierung sowie ihre "Abrechnung mit dem Laizismus". Werte zu vermitteln sei eigentlich Aufgabe der Lehrer, so Özbay. "Gerechtigkeit lehrt der Lehrer. Liebe, Gleichheit und Rechte lehrt auch der Lehrer. Was die Regierung hier macht, ist, dass sie sagt: Ein Geistlicher soll stattdessen diese Aufgabe übernehmen. Das ist eine Beleidigung des Lehrers", sagt er.
Özbay betont, die Bildung müsse verfassungsgemäß säkular sein. Er ruft Eltern und Lehrer dazu auf, Projekte wie CEDES zu verhindern. Auf change.org läuft bereits eine Petition mit der Forderung nach einer "sekulären und wissenschaftlichen Bildung" - gegen das CEDES-Projekt. Bisher haben mehr als 26.000 Menschen unterschrieben. Eine DW-Anfrage beim türkischen Bildungsministerium blieb bislang unbeantwortet.