"Brain Drain" in Afghanistan
20. Juni 2013
Seit 32 Jahren hält Afghanistan den Rekord für die größte Flüchtlingszahl weltweit. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR ist im Durchschnitt jeder vierte Flüchtling auf der Welt ein Afghane. Allein im Jahr 2012 kamen einem kürzlich veröffentlichten UNHCR-Berichts zufolge, 2,6 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan. Die meisten, rund 95%, leben in den Nachbarländern Iran und Pakistan.
Viele der restlichen 5 Prozent haben genug Geld, um Schlepper zu bezahlen, die sie nach Europa oder in die USA bringen. Einige andere versuchen, über Stipendien und Bildungsprogramme das Land zu verlassen. Diese Menschen gehören in aller Regel zu der gebildeten oder reichen Schicht des Landes.
Mit dem Schlepper in den Westen
Sharmila Hashimis Leben hat sich um 180 Grad gedreht. Noch vor einigen Monaten stand die emanzipierte Frau fest im Leben in Afghanistan, immerhin war sie Sprecherin des Gouverneurs in der Provinz Herat. Außerdem leitete sie zusammen mit ihrem Mann ein Zentrum für afghanische Journalisten in West-Afghanistan, das Journalisten vertreten und schützen sollte. Dort boten sie jungen Journalisten Ausbildungsangebote an. Den Taliban sei dieses Zentrum ein Dorn im Auge gewesen, berichtet Shamila. Sie und ihr Mann sahen sich bedroht: "Wir waren stark unter ihrer Beobachtung. Also waren wir gezwungen, unser Zentrum zu schließen und das Land zu verlassen."
Die Familie überließ sich einer Schlepperorganisation. Auf dem Weg nach Deutschland wurde sie von ihrem Mann getrennt, berichtet Sharmila. Sie empfand die Flucht als andauernden Schock; eine Erfahrung, die sie zutiefst verunsichert hat. "Wir wussten nicht, wohin wir gehen und welchen Weg wir nehmen - bis wir irgendwann endlich angekommen waren."
Seit einem Monat ist die afghanische Journalistin und Jura-Studentin nun in Deutschland. Mit ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem Asylwohnheim in Berlin. Die 26-jährige hofft, ihren Mann bald wiederzusehen und dass die Familie in Deutschland ein neues Leben beginnen kann.
"Mangelnder Schutz in Afghanistan"
Sharmila ist enttäuscht von der afghanischen Regierung. Diese habe ihre Familie nicht genügend vor den Taliban geschützt, sagt sie. Auch dadurch war ihre Familie gezwungen, das Land zu verlassen. Mit Blick auf den nahenden Abzug der internationalen Truppen im Jahr 2014 haben viele Afghanen denselben Plan.
Im Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer hält man solche Sicherheitsbedenken jedoch für übertrieben und gibt sich optimistisch. "Wir glauben nicht, dass die Lage so unsicher sein wird", sagt der amtierende Minister Jamahir Anwari. "Wir begrüßen das Jahr 2014 und den Truppenabzug. Die Sicherheitsverantwortung wurde an die afghanischen Kräfte abgegeben und wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich dort, wo die internationalen Truppen abgezogen sind, die Sicherheit verbessert hat". Doch die Flüchtlingszahlen sprechen gegen diese Aussage. In Deutschland haben nach Behördenangaben allein in der ersten Hälfte des Jahres rund 2700 Afghanen erstmalig Asylanträge gestellt, das sind etwa 8 Prozent der Anträge insgesamt.
Brain Drain: "Auto ohne Fahrer"
Die Tatsache, dass auch immer mehr ausgebildete Fachkräfte, Akademiker und Künstler Afghanistan verlassen, sei problematisch für die Entwicklung Afghanistans, darüber sind sich die Experten einig. Mit diesem sogenannten "Brain Drain" gehen dem Land wertvolle Impulse zum Wiederaufbau verloren. Pedram Tork, ein afghanischer Asylsuchender in Schweden, weiß dies aus eigener Erfahrung.
"Ich bin hin und her gerissen", sagt der ehemalige Professor für Islamwissenschaften. "Man kann den Verlust der akademischen und kulturellen Kraft eines Landes mit einem Auto ohne Fahrer vergleichen; unser Land hat keine Fahrer. Manchmal denke ich, dass ich besser zurück gehen sollte." Pedram Tork glaubt, dass die Taliban bewusst die gebildeten Menschen bedrohen, die für die für die Entwicklung seines Landes essenziell sind.
Auch Sharmila Hashimi ist überzeugt, dass sich die Lage in Afghanistan für progressiv Denkende Tag für Tag zuspitzt: "Gebildete Menschen können in diesem Land nicht leben, nur die Mafia und Warlords. Man bezahlt einen hohen Preis, indem man in ständiger Furcht lebt um Kinder, Ehemann, Haus und Leben. Natürlich wünsche ich mir zurückzugehen. Aber ich fürchte, das wird nie geschehen."
Die meisten, die einmal Afghanistan verlassen haben, kehren nicht in ihr Heimatland zurück, weiß Bernd Mesovic von der deutschen Organisation ProAsyl. Und das obwohl die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Asylbewerber in vielen Aufnahmeländern - darunter auch Deutschland - immer noch nicht so seien, dass gebildete Afghanen dort ihre Potentiale angemessen nutzen können.