Brasilien geht es besser, aber nicht gut
26. September 2014Brasília am 1. Januar 2003: Luis Inácio Lula da Silva übernimmt das Amt des brasilianischen Präsidenten. 62 Prozent der Stimmen hatte er auf sich vereint. Eine so überwältigende Mehrheit hatte die junge Demokratie zuvor noch nicht gesehen.
Es war der Auftakt zu zwölf Jahren PT - keine andere demokratische Partei regierte Brasilien jemals so lange ohne Unterbrechung. Acht Jahre lang lenkte Lula da Silva das Land, vor vier Jahren übernahm seine Parteifreundin Dilma Rousseff.
Die steht nun unter Druck, weil die Wirtschaftsleistung in den vergangenen drei Jahren kaum noch gewachsen ist. Im zweiten Quartal 2014 ist das Bruttoinlandsprodukt sogar um 0,6 Prozent gesunken. Hinzu kommt eine anhaltende Inflation von rund 6,5 Prozent.
Zwar sind die Mindestlöhne an die Preissteigerung gekoppelt, aber es sind gerade die alltäglichen Dinge, die besonders schnell teurer werden. Zudem sind viele Brasilianer hoch verschuldet, und da auch die Zinsen inflationsgebunden sind, wird es immer schwerer, die Raten zu zahlen.
In der Bevölkerung wächst nun die Angst vor dem erneuten sozialen Abstieg. Haben zwölf Jahre PT am Ende nicht gereicht, um die versprochenen Sozialreformen zu konsolidieren?
Extreme Armut stark gesunken
Bis heute erntet die Sozialpolitik der PT-Regierung weltweit Lob, erst kürzlich von den Vereinten Nationen. Dank der "Null-Hunger"-Kampagne "Fome Zero" ist die Mangelernährung seit 2003 um 80 Prozent zurückgegangen. Weitere Sozialprogramme, wie die Familienbeihilfe "Bolsa Família" und das Wohnungsbauprogramm "Minha Casa, Minha Vida" haben die extreme Armut gesenkt. Laut Welt-Ernährungsorganisation FAO um 75 Prozent.
Die Umverteilung verbunden mit einem höheren Mindestlohn hat laut Zahlen der brasilianischen Regierung 35 Millionen Menschen in die "neue Mittelschicht" aufsteigen lassen. Andere Berechnungen ergeben ähnliche Zahlen. Die neue Kaufkraft der Massen befeuerte den Konsum und hielt lange Zeit die Wirtschaft in Gang.
An diesen Erfolgen zweifeln auch Kritiker nicht. Sie vermissen jedoch andere Dinge bei den Sozialprogrammen - etwa eine bessere Integration der Begünstigten in den Arbeitsmarkt. Ansonsten, so die Befürchtung, könne sich das Problem vergrößern, weil sich die Menschen auf die Hilfe verlassen, statt selbst einen Weg aus ihrer Armut zu suchen.
Teure Schulen, kostenlose Unis
Fest steht, dass in Brasilien Einkommens- weiterhin mit Bildungsschwäche einhergeht. Zwar gibt es kostenlose Studienplätze an renommierten öffentlichen Universitäten. Doch ohne den Besuch einer teuren Privatschule stehen die Chancen, dort angenommen zu werden, nahe Null.
An dieser paradoxen Logik des brasilianischen Bildungssystems haben auch steigende öffentlichen Investitionen nichts geändert: 6,1 Prozent des Bruttoinlandproduktes investiert die Regierung inzwischen in Bildung, das ist nah am OECD-Durchschnitt von 6,3 Prozent.
Doch Brasiliens Bevölkerung ist jung, und so sind die Ausgaben pro Kopf dann doch wieder nicht so hoch wie die Zahlen auf den ersten Blick suggerieren. Pro Schüler oder Student sind es 2985 Dollar. Dieser Betrag liegt im unteren Drittel des OECD-Durchschnitts.
So erklärt sich nicht nur das schlechte Abschneiden brasilianischer Schüler in internationalen Vergleichen, sondern auch die Unzufriedenheit vieler Brasilianer - auch mit dem Bildungssystem ihres Landes, die sie Mitte 2013 bei Massendemonstrationen am Rande des Confed Cups auf die Straße trugen.
Gesundheit war kein Thema
Ähnlichen Unmut erzeugt die Gesundheitspolitik: "Für die Lula-Regierung war das nie eine Priorität", sagt der Gesundheitsökonom Áquiles Mendes von der Universität São Paulo. Das geltende System stammt noch aus dem Jahre 1988. Dass sich die staatlichen Gesundheitsausgaben in zwölf Jahren PT-Regierung - inflationsbereinigt - verdoppelt haben, ist dem Plan der Vorgängerregierung geschuldet.
So ist die Kindersterblichkeit zwar gesunken und immer weniger Menschen fallen der Malaria zum Opfer. Doch nach wie vor müssen manche Frauen ihre Kinder auf Krankenhausfluren gebären, weil kein Kreißsaal frei ist. Schwerkranke Patienten müssen teils Monate auf dringende Operationen warten.
Europäische Medizin-Standards sind in Brasilien nur Privatzahlern zugänglich. Die geben in der Summe erheblich mehr für ihre Gesundheit aus, als der brasilianische Staat.
Die Zeit läuft ab
Noch während die Massenproteste Mitte 2013 langsam abflauten, brachte Staatspräsidentin Dilma Rousseff eilig ein Gesetz zum Ausbau beider Problem-Sektoren Gesundheit und Bildung durch den Kongress: Künftige Erdöl-Erlöse sollten zu 75 Prozent in die Bildung und zu 25 Prozent in den Gesundheitsbereich fließen. Zur Ad-hoc-Verbesserung der medizinischen Grundversorgung hat die Regierung seither mehr als 14.000 Ärzte aus Kuba, Spanien, Portugal und Argentinien ins Land geholt.
Rousseff hat also reagiert. Doch viele Brasilianer werfen der Regierung vor, sie habe den Menschen Fisch gegeben, statt ihnen das Angeln beizubringen. Der Ökonom José Matias-Pereira von der Universität Brasília drückt das so aus: "Eine Politik, die Wachstum durch Konsum fördert, hat nur eine kurze Haltbarkeit."
Dass Sozialprogramme ohne Wertschöpfung nicht finanzierbar sind, weiß man auch in der PT. Doch bisher ist es ihr nicht gelungen, einen anderen Weg einzuschlagen. Ob sie noch eine Chance bekommt, werden die brasilianischen Wähler in der Stichwahl am 26. Oktober entscheiden. Eines aber ist klar: Wer auch immer Brasilien künftig regiert übernimmt ein wohlhabenderes Land als Lula da Silva 2003.