Brasilien hadert mit der Vergangenheit
1. April 2019Normalerweise spricht Präsident Jair Messias Bolsonaro gerne über die Militärdiktatur. Es war die Zeit seiner Jugend; mit 15, sieben Jahre nach dem Militärputsch von 1964, nahm er selbst an der Jagd auf fliehende Kommunisten teil. Er führte Soldaten auf der Suche nach dem Ex-Offizier und Kommunisten Carlos Lamarca durch die heimischen Wälder.
Am vergangenen Montag jedoch schickte er seinen Pressesprecher vor. Der erklärte, dass die Armee den 31. März feierlich begehen solle. Für viele Militärs, darunter Ex-Fallschirmjäger Bolsonaro, rettete der Putsch an jenem Tag im Jahre 1964 Brasilien vor einer kommunistischen Diktatur.
Wie viele Brasilianer genauso wie der Präsident denken, ist ungewiss. Doch in den Medien folgte auf Bolsonaros Feier-Order ein Sturm der Entrüstung. Über Tage erinnerten sie an die Gräueltaten der Militärs. Denn besonders unter den Intellektuellen Brasiliens ist es nahezu unstrittig, dass am 31. März 1964 mit der Entmachtung des demokratisch gewählten Präsidenten João Goulart die Verfassung gebrochen wurde.
Urteil gegen Urteil
Hatte Bolsonaro nicht mit derart heftigen Reaktionen gerechnet? Am Donnerstag ruderte er jedenfalls zurück. Er habe gar keine Feier, sondern lediglich ein Gedenken angeordnet, so der Präsident. Trotzdem untersagte eine Richterin am Freitag die Zeremonien, bei denen in den Kasernen ein Text verlesen werden sollte, der die Gräuel der Diktatur verschweigt, dafür das Militär als Retter der Nation feiert.
Am frühen Samstag kassierte ein Berufungsgericht das Urteil wieder ein. Die Zeremonien durften also stattfinden. Erstaunlicherweise drangen am Sonntag kaum Bilder aus den Kasernen an die Öffentlichkeit. Stattdessen bestimmten Demonstrationen gegen die Diktatur das Bild.
Heftige Proteste
In São Paulo gingen rund 8000 überwiegend schwarz gekleidete Demonstranten auf die Straße, in Belo Horizonte 5000 und in Rio de Janeiro 2000. "Nie wieder Diktatur" stand auf ihren Bannern. Die Gegendemos, bei denen Bürger mit der gelb-grünen Landesfahne über die Straßen zogen und die Nationalhymne sangen, waren dagegen spärlich besucht. In den sozialen Medien lieferten sich beide Seiten Beschimpfungsorgien, wie sie bereits im Wahlkampf des vergangenen Jahres üblich waren. Brasilien ist weiter tief gespalten.
"Diese ganze Episode zeigt ja nur, dass es an einer wirklichen Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit mangelt", sagt der auf Diktaturprozesse spezialisierte Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert gegenüber der DW. Er hält die Zeremonie für verfassungswidrig, da sie Verbrechen gegen die Menschenrechte verharmlose. "Alleine die Tatsache, ein unkritisches Gedenken zu veranstalten, das einen Verfassungsbruch verschweigt, ist ja nichts weiter als eine Beschönigung."
Keine Vergangenheitsbewältigung
Bisher ist eine Bestrafung der Täter aufgrund des 1979 erlassenen Amnestiegesetzes nicht möglich. Weder Militärs, die Oppositionelle folterten und töteten, noch Guerilleros, die Soldaten töteten, wurden bestraft. "Dieses Land hat diese Zeit nie wirklich juristisch aufgearbeitet. Wir haben weder Gerechtigkeit gelten lassen noch die Opfer mit einer passenden Symbolik entschädigt", so Weichert. "Und der Staat hat weder eine Selbstkritik geübt noch sich selbst verändert - nicht nur das Militär, sondern der Staat insgesamt."
Er sei überrascht gewesen, dass Bolsonaro direkt zu Beginn seiner Amtszeit die Zeremonie anordnete, sagt der ehemalige Guerillakämpfer Maurice Politi gegenüber der DW. Politi, der in den 70er Jahren vier Jahre lang inhaftiert war und dabei gefoltert wurde, sieht aber auch einen positiven Effekt der umstrittenen Anordnung Bolsonaros.
"Statt 300 Leuten, wie in den letzten Jahren, waren am Samstag bei der Kundgebung vor dem Polizeigebäude in São Paulo doppelt so viele dabei." In den Räumlichkeiten hatten die Militärs Oppositionelle gefoltert und getötet. Heute ist der Ort eine Gedenkstätte mit einem hohen Anteil von jugendlichen Besuchern, betont Politi.
Einzelfall in Lateinamerika
Brasilien hinke bei der Vergangenheitsbewältigung hinterher. In Argentinien wurden längst die Generäle verurteilt. "Kein anderes lateinamerikanisches Land feiert den Tag des Putsches, nur Brasilien", sagt Politi. Schuld daran sei das lange Schweigen nach dem Ende der Diktatur im Jahr 1985. Erst 2007 habe die Diskussion um die Gültigkeit des Amnestiegesetzes das Schweigen beendet.
"Über 20 Jahre lang blieb das Thema unter dem Teppich. Praktisch eine komplette Generation wuchs auf ohne zu wissen, was damals passiert war." Von 2012 bis 2014 trug dann die von Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzte Wahrheitskommission Daten über die Diktatur zusammen. Sie zählte 434 Ermordete und tausende Gefolterte, darunter auch Rousseff selbst.
Die Empfehlungen der Kommission, darunter eine Überarbeitung des Lehrplans an Schulen und die Einrichtung einer "Übergangsjustiz" mit immerhin symbolischen Strafen, seien jedoch nie umgesetzt worden, so Weichert. "Brasilien kommt nicht daran vorbei, dies zu tun. Ansonsten werden wir immer wieder solche Episoden erleben wie diese hier."
Ominöses Video
Bolsonaro selbst nahm übrigens nicht an den Zeremonien teil. Er weilt auf Staatsbesuch in Israel. Sein Sohn Eduardo veröffentlichte am Sonntagabend ein Video auf Twitter, in dem ein betagter Erzähler von der Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme 1964 berichtet. "Das Militär hat uns gerettet", so die Botschaft des Videos, das wenig später auch über die offiziellen Pressekanäle des Präsidentenpalastes veröffentlicht wurde. Auf die Nachfrage, wer hinter der Veröffentlichung stehe, verweigerte die Regierung jeglichen Kommentar. Noch immer bleibt vieles im Dunkeln.