Brasilien: Waffen für das Volk
13. Februar 2021Bereits im Wahlkampf hatte der Rechtspopulist Jair Bolsonaro für eine Bewaffnung der Bürger geworben, damit diese sich gegen die grassierende Kriminalität und Gewalt im Land zur Wehr setzen könnten. Als Präsident liberalisierte er dann tatsächlich mithilfe mehrerer Dekrete die Regeln für den Erwerb und das Tragen von Schusswaffen in Brasilien.
Unter anderem dürfen Zivilisten nun bis zu vier Waffen zu Hause oder am Arbeitsplatz verwahren. Sie haben Zugang zu Kalibern, die früher nur vom Militär oder der Polizei verwendet wurden, und dürfen deutlich mehr Munition erwerben. Auch die Importsteuer für Schusswaffen ist seit neuestem abgeschafft.
Legale und noch vielmehr illegale Waffen
Die Lockerungen scheinen zwei Jahre nach Bolsonaros Amtsantritt ihre Wirkung entfaltet zu haben. Waren 2018 noch knapp 700.000 Schusswaffen in legalem Privatbesitz, so besitzen Sportschützen, Jäger, Sammler und eben Bürger, die sich selbst verteidigen wollen, zusammengenommen nun knapp 1,2 Millionen Waffen. Das ist ein Anstieg von 65 Prozent. Die Daten wurden im Rahmen einer Recherche der brasilianischen Tageszeitung "O Globo" bei der Bundespolizei und dem Militär in Erfahrung gebracht.
Nun scheinen 1,2 Millionen Schusswaffen in einem Land mit mehr als 211 Millionen Einwohnern immer noch nicht besonders viel, wenn man Brasilien mit anderen Ländern vergleicht. So soll es im Waffenliebhaberland USA sogar mehr Waffen als Einwohner geben, auch in Deutschland sind deutlich mehr Waffen als in Brasilien registriert: Mehr als fünf Millionen bei 83 Millionen Einwohnern.
Allerdings sind die registrierten Waffen in Brasilien nur ein Bruchteil von dem, was tatsächlich zirkuliert, wie Wirtschaftswissenschaftler Thomas Victor Conti erklärt: "Einige Studien gehen davon aus, dass die tatsächliche Anzahl der Schusswaffen zehn bis 15 Mal höher sein könnte." Dabei handle es sich etwa um illegale Waffen im Bereich der organisierten Kriminalität oder um Waffen, die Privatleute einfach nicht registrieren ließen.
Mehr Waffen, mehr Sicherheit - eine zweifelhafte Formel
Genau diese Masse an illegalen Waffen machen viele Brasilianer für die Gewalt und die exorbitante Mordrate im Land verantwortlich - jedes Jahr sterben Zehntausende einen gewaltsamen Tod. Im Gegenzug auch die "guten Bürger" mit mehr Waffen auszustatten, wie Bolsonaro es vorsieht, dürfte jedoch kaum zur Lösung dieser Probleme beitragen.
"Die meisten Experten stellen im Gegenteil fest, dass mehr Waffen auch mehr Gewalt bedeuten", sagt auch Conti, der unter anderem am renommierten Insper-Institut für Wirtschaft und Ingenieurwesen in São Paulo lehrt. "Denn es gibt keinen Gegensatz zwischen illegalen und legalen Waffen, sie sind Teil desselben Marktes. Wenn mehr legale Waffen in Umlauf sind, erhöhen Sie indirekt auch die Menge der Waffen, die für den Schwarzmarkt zur Verfügung stehen."
Geschichte straft Bolsonaros These Lügen
Mit der Lockerung der Waffengesetze handelt Bolsonaro auch Erkenntnissen aus der jüngeren Vergangenheit Brasiliens zuwider. Denn als Ende 2003 der Erwerb und Besitz von Schusswaffen mit dem "Estatuto de Desarmamento" strikter reglementiert wurde und finanzielle Anreize für freiwillige Waffenabgaben eingeführt wurden, führte dies dazu, dass die bis dahin explodierende Mordrate von da an für einige Jahre leicht nach unten ging.
Zuvor hatten Brasilianer ab 21 Jahren ohne große Bürokratie Feuerwaffen kaufen und sogar mit sich herumtragen können. Im Bundesstaat São Paulo seien die Effekte des neuen Waffengesetzes besonders spürbar gewesen, stellt etwa der Ökonom Daniel Ricardo de Castro Cerqueira in seiner prämierten Doktorarbeit "Ursachen und Folgen der Kriminalität in Brasilien" fest. Denn dort seien die neuen Restriktionen gut umgesetzt und mit weiteren Maßnahmen kombiniert worden.
Der Hinweis auf weitere Faktoren, die zur hohen Kriminalität und Mordrate in Brasilien beitragen, ist auch Conti wichtig: "Diese Probleme sind komplex und dementsprechend mit der Waffenpolitik alleine nicht zu lösen. Unter anderem spielen Arbeitslosigkeit, Armut und der fehlende Zugang zu Bildung eine Rolle, sowie geringe Investitionen in die öffentliche Sicherheit und in die Aufklärung von Gewaltverbrechen."
Doch statt diese Stellschrauben verstärkt ins Visier zu nehmen, sollen sich nach Bolsonaros Vorstellung die Bürger selbst wehren, wenn etwa jemand ins Haus einbricht. Dabei sprechen sich laut dem Umfrage-Institut Datafolha zwei Drittel der Brasilianer gegen Schusswaffen für Zivilisten aus.
Im Ernstfall wirklich hilfreich?
Noch weniger sinnvoll erscheint die Bewaffnung einfacher Bürger, wenn man sich vorstellt, wie gut deren Selbstverteidigung in der Praxis wohl tatsächlich funktionieren mag. "Das Problem ist, dass der Kriminelle immer den Vorteil des Überraschungseffekts hat", führt Thomas Conti aus. "Zudem ist es wahrscheinlich, dass er sich selbst schwerer bewaffnet und eher anfängt zu schießen, wenn er denkt, dass das potenzielle Opfer auch bewaffnet sein könnte."
Dagegen wird befürchtet, dass häusliche Gewalt, Familienstreitereien oder sonstige Auseinandersetzungen durch einen verstärkten privaten Waffenbesitz öfter tödlich enden könnten. Wie sehr Bolsonaro den Umgang mit Waffen in Brasilien weiter liberalisieren kann, hängt auch vom Kongress ab, dem weitere Gesetzesvorschläge Bolsonaros zum Waffenrecht vorliegen.
Ökonom Contis Hoffnung ist, dass sich die Abgeordneten bei ihren Entscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse und Brasiliens bisherige Erfahrungen mit Waffengesetzen zu Herzen nehmen. "Man kann durchaus demokratisch darüber streiten, ob eine Privatperson das Recht auf eine Waffe zur Selbstverteidigung haben sollte. Aber es ist verlogen, bei dem Ausmaß an Gewalt in Brasilien den erleichterten Zugang zu Feuerwaffen als eine Frage der öffentlichen Sicherheit zu verkaufen."