Brasiliens Aufschrei gegen Polizeigewalt
10. Juni 2020Der 14-jährige João Pedro spielte gerade im Haus seines Onkels, als er von 72 Polizeikugeln getroffen wurde. Das war Mitte Mai. "Die Behauptung, die Sklaverei sei abgeschafft, ist die größte Lüge der Geschichte", klagt Mônica Cunha. "Das zeigt uns die Pandemie." Auch ihr Sohn wurde von der Polizei erschossen - vor 13 Jahren.
Cunha nahm an den Massendemonstrationen gegen Rassismus am vergangenen Wochenende in Brasilien teil. "Es reicht: Schwarze Mütter wollen nicht mehr weinen", steht auf ihrem Plakat, mit dem sie durch die Innenstadt von Rio de Janeiro zog. Nach dem dem Tod von George Floyd in Minneapolis, kam es im größten lateinamerikanischen Land ebenfalls zu einem Aufschrei gegen Polizeigewalt.
Denn auch in der Corona-Pandemie gehen die Einsätze in Armenvierteln unvermindert weiter. Nur einen Tag, nachdem der Oberste Gerichtshof Brasiliens am 5. Juni Polizeioperationen in Favelas von untersagt hatte, hallten erneut Schüsse aus Polizeiwaffen durch das Armenviertel "Complexo do Alemão" im Norden der Hauptstadt Rio.
5804 Tote durch Polizeigewalt
Am Zuckerhut geht die Polizei besonders brutal vor. 2018 ereignete sich jeder vierte Tod durch Polizeigewalt im Bundesstaat Rio de Janeiro. 2019 wurden allein in den ersten sechs Monaten 1075 Todesopfer registriert, 80 Prozent von ihnen waren schwarz. Im April dieses Jahres lag die Zahl der Opfer um sogar 43 Prozent höher als im April vergangenen Jahres.
Nach einer Erhebung des brasilianischen Gewaltbarometers (Monitor da Violência) starben in Brasilien im vergangenen Jahr 5804 Menschen an Polizeigewalt. 2018 lag die Zahl der Todesopfer bei 5716. Zum Vergleich: In den USA starben 2019 laut Washington Post 1039 Menschen an Polizeigewalt. Beim Ranking der Polizeigewalt liegt der Bundesstaat Rio de Janeiro mit 10,5 Todesopfer pro 100.000 Einwohnern an zweiter Stelle nach dem Amazonas-Bundesstaat Amapá belegt mit 15,1 Todesopfern.
Besonders gefürchtet ist in Brasilien die "Militärpolizei", die nicht dem Militär angehört, sondern die kasernierte Polizeibehörde der Bundesstaaten ist. "Ihre Wurzeln reichen bis in die Kolonialzeit zurück", erklärt der Historiker Luiz Antônio Simas: 1809 wurde sie als königliche Garde zum Schutz des portugiesischen Königs Dom João VI. gegründet, der vor Napoleon in die brasilianische Kolonie geflohen war.
Historische "Angst vor Haiti"
"Es kursierte damals die Angst vor einer Ausbreitung des sogenannten 'Haitianismus' unter den Eliten", erklärt der Historiker. Das Wappen der Militärpolizei in Rio zeigt bis heute eine Krone und zwei sich überkreuzende Pistolen vor Zuckerrohrpflanzen.
Während der Haitianischen Revolution (1791 – 1804) hatten Sklaven die französischen Kolonialherren vertrieben, die Sklaverei abgeschafft und die Unabhängigkeit ausgerufen."Brasilien hat immer noch Angst vor der 'Haitisierung'", meint Simas. "Die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und die Verteidigung von Besitz und Eigentum in der Hand einer kleinen Elite gehört zum Gründungsmythos der Polizei."
Doch nicht nur in der Polizei ist Rassismus tief verwurzelt. Institutionell sei dem Phänomen viel schwerer beizukommen, als etwa in den USA, erklärt die Historikerin Ynaê dos Santos von der Universidade Federal Fluminense (UFF) in Rio. Denn anders als in den USA gab es in Brasilien nach der Abschaffung der Sklaverei 1888 keine offizielle Rassentrennung mehr.
"Aufhellung der Rasse"
Stattdessen ging Brasilien einen Sonderweg: Es erhob die "Aufhellung der Rasse" zur Staatsräson. Die Stärke des "weißen Blutes" würde das "schwarze Blut" verdrängen, argumentierte der brasilianische Vertreter João Batista Lacerda beim Ersten Weltrassenkongress 1911 in London: Ohne die Ankunft neuer Afrikaner und durch die geförderte Einwanderung weiterer Europäer, prognostizierte Lacerda, würden Mestizen und Schwarze auf diese Weise binnen eines Jahrhunderts aus Brasilien verschwinden.
"Es wurde die Idee von einer Nation verbreitet, die schwarze Menschen als unerwünscht und entbehrlich ansah", sagt die Historikerin Ynaê dos Santos. Erreicht werden sollte die "Aufhellung der Rasse" dadurch, dass weiße Männer schwarze - und auch indigene - Frauen ehelichten. Der Gründungsmythos der brasilianischen Demokratie, sagt Dos Santos fuße auf der so hergestellten "Harmonie der Rassen", blende damit aber die Gewalt, die den nicht weißen Frauen angetan wurde, aus.
Schwarze Männer blieben außen vor
Während schwarze Frauen in der neuen Gesellschaft die Rolle der Ehefrau oder Hausangestellten ausfüllten, blieben schwarze Männer auf der Strecke, erklärt die Historikerin: "Nach den rassistischen Theorien des 19. Jahrhunderts waren sie genetisch dazu veranlagt, kriminell zu sein." Dies spiegele sich auch in der Polizeigewalt von heute wider.
Während der Militärdiktator (1964 – 1985) wurde die Polizei zu einem Repressionsapparat ausgebaut, um den Kampf gegen die politische Linke zu führen. In den 1970er Jahren dann suchte sich das Regime im Zuge des internationalen "Kriegs gegen Drogen", ausgerufen von US-Präsident Richard Nixon, einen neuen internen Feind.
Dieser Konflikt überlebte die Diktatur: "Die Visitenkarte unserer Demokratie sind die Blutbäder der 1990er Jahre", sagt der Historiker Lucas Pedretti. "Die schwarze, marginalisierte Jugend ist niemals aus dem Fadenkreuz gerückt", sagt Pedretti. "Unsere Demokratie ist gezeichnet von einem tiefsitzenden Staatsterrorismus."
Allein 1993 erschütterten vier Massaker die Stadt Rio de Janeiro: 53 Menschen, darunter Straßenkinder, wurden dabei mutmaßlich von der Militärpolizei ermordet. Nicht alle Fälle konnten aufgeklärt werden.
Der ehemalige Kommandeur der Militärpolizei von Rio de Janeiro, Oberst Íbis Pereira, bestätigt den strukturellen Rassismus : "Wir haben eine Polizei, die nicht ermittelt, sondern als unabhängiger Repressionsapparat operiert – zumindest in den armen Gegenden, wo die Verfassung noch nicht vorgedrungen ist." Dies spiegele den Rassismus wider, so Pereira, "denn in diesen Gegenden leben vor allem Schwarze".