Brasiliens Demonstranten meinen es ernst
7. September 2013"Es wird der größte Protest in der Geschichte Brasiliens! Schon 140 Städte haben Demonstrationen angekündigt", heißt es auf der Facebook-Plattform "Anonymous". "Am 7. September werden die Straßen so voll sein, dass meine Familie kaum noch Platz findet", schreibt ein Aktivist von der alternativen Mediengruppe "Ninjas", die via Facebook live über Proteste in Brasilien berichtet.
Ob sich die kühne Prophezeiung der Aktivisten erfüllt, ist noch offen. Auch von "anonym" kann keine Rede mehr sein, denn rechtzeitig vor dem 7. September hat der Landtag von Rio de Janeiro am Dienstag (03.09.2013) ein Vermummungsverbot erlassen. Sicher ist jedoch: An Gründen für Proteste mangelt es nicht. Denn viele Forderungen der Demonstranten, die während des Confed-Cups gegen teure WM-Stadien und Korruption auf die Straße gingen, blieben unerfüllt.
Vertröstet und verärgert
"Es geht um dieselben Themen wie im Juni, nämlich Korruption, Bildungspolitik, Gesundheitswesen und die steigenden Lebenshaltungskosten", erklärt Markus Fraundorfer vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Die Demonstrationen zeigten, dass es die brasilianische Bevölkerung ernst meine mit den Reformen.
Einige Änderungen wurden bereits auf den Weg gebracht. Als unmittelbare Antwort auf die Massenproteste nahmen die meisten Städte und Gemeinden die geplanten Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr zurück. Auch die Legislative reagierte. So verabschiedete der brasilianische Senat Ende Juni ein Gesetz, das Korruption als schwerwiegendes Verbrechen einstuft und das Mindeststrafmaß auf vier Jahre festlegt. Die Gesetzesvorlage hatte 15 Jahre lang in der Schublade gelegen.
Auch im Parlament zeigte man sich gegenüber Reformen zunächst aufgeschlossen. Nach jahrelangem Widerstand stimmten die Abgeordneten unter anderem einer Regierungsvorlage zu, nach der künftig drei Viertel aller Gewinne, die bei der Erdölförderung erwirtschaftet werden, in das brasilianische Bildungssystem investiert werden. Die restlichen 25 Prozent sollen in den chronisch unterfinanzierten Gesundheitsbereich fließen.
Korpsgeist statt Reformeifer
Doch bei genauer Betrachtung hat sich in der Praxis wenig geändert. Die versprochenen Milliardeninvestitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs lassen auf sich warten, zwölf der insgesamt 57 Verkehrsprojekte zur Vorbereitung der WM liegen auf Eis. Das vom Senat verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung von Korruption hängt im Abgeordnetenhaus fest. Und das von Staatspräsidentin Dilma Rousseff vorgeschlagene Plebiszit über dringende politische Reformen etwa der Parteienfinanzierung und des Wahlrechts wurde von den Volksvertretern ebenfalls kassiert.
Wie wenig sich Brasiliens politische Klasse wirklich um Korruptionsbekämpfung schert, zeigte jüngst eine Abstimmung im Abgeordnetenhaus in Brasilia. Die 513 Volksvertreter brachten es nicht übers Herz, einem Kollegen, der von der brasilianischen Justiz zu 13 Jahren Haft wegen Bestechung und Bandenbildung verurteilt worden war, das Mandat abzuerkennen. Die Schonung des parteilosen Abgeordneten Natan Donadon aus dem Bundesstaat Roraima am 28. August ließ das Ansehen der Legislative in Brasilien auf einen historischen Tiefpunkt sinken.
"Die Abgeordneten haben einen nicht nachvollziehbaren Fehler begangen", meint der Politikwissenschaftler Valeriano Costa. Der Kongress habe sich lächerlich gemacht, auch wenn mittlerweile geheime Abstimmungen im Plenum im Eilverfahren abgeschafft worden sind. "Wenn es zu Massenprotesten gegen Korruption am 7. September kommt", so der Meinungsforscher, der an der Elite-Universität in Campinas lehrt, "dann werden sich diese in erster Linie gegen die Legislative richten."
Proteste reißen nicht ab
Ein Freibrief für Brasiliens Staatschefin Dilma Rousseff ist dies jedoch nicht. In den Führungsgremien ihrer Arbeiterpartei geht man nach Berichten der brasilianischen Tageszeitung "Folha de Sao Paulo" davon aus, dass die Proteste über die WM hinaus bis zu den Wahlen im Oktober 2014 anhalten werden.
Brasilienexperte Markus Fraundorfer vom Giga-Institut sieht das genauso. "Wenn die Regierung nichts unternimmt, dann kann sich bei der WM wiederholen, was sich im Juni beim Confederations Cup gezeigt hat."