Auf dem Weg in die "Jesuskratie"
30. März 2013Im größten katholischen Land der Welt ist ein Streit über das Verhältnis zwischen Politik und Religion ausgebrochen. Denn im Gegensatz zu den meisten westlichen Staaten haben in Brasilien die Kirchen in den vergangenen 20 Jahren enorm an Einfluss gewonnen – allen voran die Freikirchen.
Auslöser der polemisch geführten Debatte war Anfang März die Wahl des evangelikalen Abgeordneten Marco Feliciano zum Vorsitzenden der Menschenrechtskommission im brasilianischen Abgeordnetenhaus. Der Prediger und Chef der Erweckungsgemeinde "Catedral do Avivamento" hatte Homosexuellen mehrfach vorgeworfen, "die heilige brasilianische Familie" zu zerstören. Brasiliens Verfassungsgericht (Supremo Tribunal Federal) beschuldigte er wegen seiner jüngsten Rechtssprechung zur Abtreibung, "Gott zu beleidigen". Auch rassistische und frauenfeindliche Äußerungen werden ihm vorgehalten.
Proteste gegen Kleriker
Die radikalen Äußerungen riefen einen Sturm der Entrüstung hervor. Bei Protesten im In- und Ausland forderten die Demonstranten Feliciano zum Rücktritt auf - am Samstag (23.03.2013) sogar vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International schloss sich dem Gesuch an. Und auch die brasilianische Regierung distanzierte sich ausdrücklich von den verbalen Angriffen gegen Minderheiten.
Doch hinter dem Streit um Menschenrechte verbirgt sich mehr als eine rein innenpolitische Auseinandersetzung. Der Fall steht für das zunehmende Unbehagen im Land gegenüber dem starken Einfluss religiöser Gruppen auf die Politik.
Religion regiert mit
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Im Zeitraum von 1990 bis 2013 wuchs die evangelikale Fraktion im brasilianischen Kongress von 30 auf 73 Abgeordnete. Bei Abstimmungen zum Thema Lebensschutz und Abtreibung weitet sich die religiöse Gruppe auf insgesamt 192 Parlamentarier aus, was einem Anteil von knapp 40 Prozent aller Abgeordneten entspricht. Dazu gehören auch viele Volksvertreter der katholischen Parlamentariergruppe.
Der politische Machtzuwachs der Freikirchen findet durchaus eine Entsprechung in der Bevölkerung. Nach Angaben des brasilianischen Statistikamtes IBGE steigerten Freikirchen und Pfingstgemeinden ihren Anteil an der brasilianischen Bevölkerung zwischen 2000 und 2010 von 15 Prozent auf 22 Prozent. Im gleichen Zeitraum ging der Anteil der Katholiken von 74 auf 68 Prozent zurück.
Mittel der Macht
Ursache für die politische Macht von Pastoren und Predigern sind aber nicht allein die Millionen von Gläubigen, die für "ihre" christlichen Abgeordneten stimmen und sich eine "Jesuskratie" wünschen. Nach einer neuen Studie des Instituts für religiöse Studien (Iser) aus Rio de Janeiro in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung geht der Kampf um politischen Einfluss auch auf die starke Konkurrenz zwischen Freikirchen und Katholizismus in Brasilien zurück.
"Der Wettkampf hat sich vom religiösen Spielfeld in die Politik verlagert, weil politische Macht eine Garantie für die Präsenz im öffentlichen Raum ist", erklärt Christina Vital, die Autorin der gerade veröffentlichten Studie über das Verhältnis zwischen Religion und Politik in Brasilien. "War die katholische Kirche damit bisher nicht immer erfolgreich?", fragt Autorin Vital.
Laut der Untersuchung begnügen sich die Freikirchen und Pfingstgemeinden nicht mit Gottesdiensten. Sie fordern vom Staat dieselben Rechte ein, die auch die katholische Kirche in Anspruch nimmt: Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, religiöse Betreuung von Häftlingen, religiöse Krankenhäuser und Schulen und politische Lobbyarbeit.
"Die evangelikale Bewegung hat dazu geführt, dass alle Glaubensgemeinschaften in Brasilien mehr in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden", lautet eine Schlussfolgerung der Studie. Die religiösen Anführer verteidigten deshalb ihre Werte und Traditionen im Rahmen der Meinungsfreiheit und forderten ihr demokratisches Recht auf Teilhabe an der politischen Entscheidungsfindung ein.
Religiöse Brasilianer
Beim religiösen Wettbewerb im demokratischen System verfügt die katholische Kirche, die einst die portugiesischen Kolonialherren zur Staatsreligion erhoben, immer noch über einen klaren Vorsprung. "Beim Religionsunterricht übt die katholische Kirche immer noch ihre traditionelle Vormachtstellung aus", meint der deutsche Religionswissenschaftler Frank Usarski, der an der PUC-Universität São Paulo unterrichtet. "Es gibt viele Pfingstgemeinden, die das ändern wollen und die gleichen Rechte für sich beanspruchen."
Glaubensfragen haben in Brasilien trotz der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat einen hohen Stellenwert. 90 Prozent der rund 200 Millionen Einwohner bekennen sich zum christlichen Glauben. Nach der 2010 von der Getúlio-Vargas-Stiftung (FGV) veröffentlichten "Landkarte der Religionen" betrachten 89 Prozent Religion als wichtiges Thema. Die Hälfte der befragten Brasilianer gab an, regelmäßig Gottesdienste zu besuchen.
Auch die Väter der brasilianischen Verfassung von 1989 stellten ihr Werk in der Präambel ausdrücklich "unter den Schutz Gottes". Sogar auf den Banknoten der brasilianischen Währung "Real" steht in großen Buchstaben: "Deus seja louvado" – Gott sei gelobt.