Brasiliens Wirtschaft braucht Reformen
27. Juli 2012Jahrelang lief alles gut. Die brasilianische Wirtschaft wuchs, zwischen 2004 und 2010 durchschnittlich um 4,5 trotz Rezession im Krisenjahr 2009. 2010 sogar um 7,5 Prozent. Doch seit 2011 ist der Wurm drin. Anfang der Woche (24.7.) senkte die Regierung ihre Wachstumsprognose für 2012 erneut: auf drei Prozent - andere Beobachter halten die Hälfte für realistischer. Präsidentin Dilma Rousseff verwies bei den Ursachen immer wieder auf die EU-Schuldenkrise und die schwächelnde Weltwirtschaft. Doch es gibt auch strukturelle Probleme.
Wenn das Ranking der chilenischen Zeitschrift Economía América stimmt, ist nur eins der zehn größten Unternehmen Brasiliens nicht mit Rohstoffen zugange: der Handelskonzern "Pão de Açucar" auf Platz acht. An der Spitze steht der halbstaatliche Ölkonzern Petrobras, es folgen Bergbau-, Metall- und Agrarkonzerne und der Mischkonzern Odebrecht unterhält gleich mehrere Rohstoffsparten.
Wirklich überraschend ist das nicht. Denn die Wirtschaft krankt genau daran: Brasilien hat außer Commoditys nicht viel zu bieten. Dem Wirtschaftsministerium zufolge stieg der Anteil der Rohstoffe am Export in der ersten Dekade des Jahrhunderts von 26,3 auf 44,6 Prozent.
Zwar hat sich der Außenhandel gleichzeitig vervierfacht, doch Federico Foders, Professor am Kieler Institut für Weltwirtschaft stellt klar: "Die Industrieprodukte Brasilien haben an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt." Rogério de Souza, Chefökonom des brasilianischen Forschungsinstituts für Industrieentwicklung IEDI (Instituto de Estudos para o Desenvolvimento da Indústria), drückt es noch drastischer aus: "Die brasilianische Industrie ist offensichtlich nicht wettbewerbsfähig."
Zyklische Wachstumsschwäche
Maßgeblichen Anteil schreiben Wirtschaftswissenschaftler äußeren Faktoren zu. "Die starke Wechselkursverzerrung gegenüber dem Dollar und vor allem dem Yuan setzen die immer wieder beklagten brasilianischen Zölle faktisch außer Kraft", meint Yesko Quiroga, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in São Paulo. Das macht es brasilianischen Produzenten nicht nur schwer, ihre Produkte zu exportieren. Inzwischen müssen sie auch um den Binnenmarkt bangen.
"Ein Teil der Flaute ist dem Wirtschaftszyklus geschuldet", sagt Ilan Goldfajn, Chefökonom der Privatbank Itaú, einer der größten des Landes. Denn schließlich kämpfe man gegen die teilweise zweistellige Inflation. Das gelingt derzeit auch mit einem fast schon traditionell hohen Leitzins. Der "Selic" erreichte seinen letzten Höchststand vor genau einem Jahr mit 12,5 Prozent, derzeit liegt er bei acht Prozent.
Genau das aber trug zur Überbewertung des Real bei: "Dadurch, dass wir in den führenden Ländern ein sehr niedriges Zinsniveau hatten, ist sehr viel Kapital nach Brasilien geflossen, das den Wechselkurs des Real hoch gedrückt hat", sagt der Kieler Forscher Foders.
Auch nicht unbedingt zyklisch ist, dass der größte Absatzmarkt für brasilianisches Eisenerz, nämlich China, langsam satt ist: "China wächst aus der Entwicklungsphase heraus, in der man viele Rohstoffe für Maschinen braucht, um die Produktion aufzubauen", so der Ökonom. "Nun stehen die Fabriken in China, und auch die Innovation nimmt zu."
Bequeme Wirtschaftspolitik
Doch den Weltmarkt für Brasiliens Wachstumsschwäche verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Jahrelang hat die Regierung den Binnenmarkt durch Zölle geschützt, so dass die Unternehmen keinen echten Innovationsdruck hatten.
Hinzu kommen hohe Lohnkosten-, Bürokratie- und Finanzierungskosten. Gegen die nationale Konkurrenz war das egal, weil alle damit kämpften. Im Vergleich mit China aber hat Brasilien nun das Nachsehen. IEDI-Chefökonom De Souza bringt es auf den Punkt: "Es ist teuer, in Brasilien zu produzieren: Infrastruktur, Steuerlast, Bürokratie - die Kosten sind sehr hoch."
Anstatt diese institutionellen Kosten zu senken, versucht die Regierung die Wachstumsschwäche mit Leitzinssenkungen und Investititionsförderprogrammen zu überwinden. Letztere kosten zusätzliches Geld, das der Staat eigentlich nicht hat. Die Bruttoverschuldung liegt um 50 Prozent - viel für ein Schwellenland. "Und Brasilien hat bereits den höchsten Steuerquotienten in Lateinamerika", sagt Federico Foders vom Kieler Institut für Weltwirtschaft.
Die Staatsquote liegt bei knapp 40 Prozent - niedriger als in Deutschland zwar, aber: "Große Teile der Volkswirtschaften dieser Länder sind gar nicht registriert, da zahlt niemand Steuern. Und wenn man da so einen hohen Steueranteil zustande bringt, dann ist das schon eine große Kunst", so der Lateinamerikaspezialist. Außerdem könne diese Strategie die Inflation erneut anheizen.
Doch der Ökonom nimmt auch die Unternehmen in die Pflicht: "Anstatt durch Lobbyismus zu versuchen, ausländische Konkurrenten durch Zölle und Importverbote aus dem Markt zu halten, sollten brasilianische Unternehmen lieber den Wettbewerb aufnehmen. Wenn sie mit den Chinesen konkurrieren wollen, müssen sie einfach besser und billiger sein."
Im Konzert der Großen
Das gelte vor allem, wenn man den Anteil am Welthandel erhöhen wolle, sagt Foders. Brasilien hat zwar laut IWF 2010 Großbritannien vom fünften Platz beim Bruttoinlandsprodukt verdrängt. Doch im Exportranking lag es 2010 auf Rang 22 hinter Australien und vor Malaysia. Keine 11 Prozent beträgt die Ausfuhr am brasilianischen BIP. In China lag der Anteil im gleichen Jahr über einem Viertel, in Deutschland bei fast 40 Prozent.
Diese geringe Einbindung in den Welthandel bewahrt Brasilien bisher vor Schlimmerem. Doch wenn Brasilien seine Position im Konzert der Großen ausbauen will, muss es seine Wirtschaft vom Rohstoffsektor lösen.