Wenn Wahrheit wehtun soll
25. April 2017Elor Azaria ist bekannt in Israel. Er hat einen Palästinenser erschossen. Das war im März 2016. Um zu verstehen, warum der damals 20-Jährige seitdem in aller Munde ist und jedes Kind im Land sein Konterfei kennt, muss man auf die Umstände des Todesschusses schauen. Der Getötete, ein Attentäter, wurde nach seinem Angriff von israelischen Soldaten überwältigt und dabei schwer verletzt. Ein hinzugezogener Sanitäter, Elor Azaria, der sich um den Verwundeten kümmern sollte, zog stattdessen seine Waffe und schoss dem reglos am Boden Liegenden gezielt in den Kopf.
Der Fall Azaria und die tiefe Spaltung der Nation
Das alles ist unstrittig, denn der brutale Vorfall wurde gefilmt. Ein Mitarbeiter der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem war so geistesgegenwärtig. Das Video stellte er ins Netz. Die Empörung war groß - auch wegen des milden Urteils gegen Azaria von achtzehn Monaten Haft wegen Totschlags. Der Fall löste fast eine Staatsaffäre aus. Vor allem, weil der Todesschütze von vielen Israelis als Held gefeiert wurde. Von perverser Gerechtigkeit war die Rede. Der Fall Azaria ist besonders prominent und erst ein Jahr her und juristisch noch nicht endgültig abgeschlossen. Doch Betselem, 1989 von Akademikern, Anwälten, Journalisten und Knesset-Abgeordneten gegründet, dokumentiert schon seit Jahren unbekannte, unbequeme und unerhörte Praktiken aus dem Soldatenalltag der israelischen Armee.
Allein zwischen 2000 und 2015 hat sich Betselem (hebräisch für: Ebenbild Gottes) mit 739 Beschwerden an den Militärstaatsanwalt gewandt. Nur dreieinhalb Prozent führten dabei zu einer Anklage. Auffällig viele Akten, die Fehlverhalten und Menschenrechtsverletzungen von israelischen Soldaten in den besetzten Gebieten dokumentieren, "gehen verloren". Eine schmerzvolle Erfahrung für Hagai El-Ad, den früheren Direktor von Betselem, der dem politischen System in Israel vorwirft, die Besatzung zu verschleiern und schönzureden.
Zermürben, drangsalieren, zerstören: Alltag im Westjordanland
Eine Umfrage von 2016 belegt, dass 71 Prozent der jüdischen Israelis glauben, im Westjordanland gebe es gar keine Besatzung. Richtig gereizt reagiert vor allem die israelische Rechte, wenn Kritik an ihrer Armee, ihren Soldaten laut wird. Und die Politik geht inzwischen offen gegen die "vom Ausland finanzierten" Organisationen vor. Breaking the Silence, eine Organisation ehemaliger Soldaten der Israelischen Streitkräfte (IDF), bekam das erst vor wenigen Wochen zu spüren.
In einer kleinen Kunstgalerie in Jerusalem wollte die Organisation anonyme Aussagen von israelischen Soldaten aus dem Westjordanland dokumentieren. Der Lokaltermin eskalierte zu einer Staatsintervention, als Kulturministerin Miri Regev den Bürgermeister der Stadt drängte, den Vortrag zu verbieten. Begründung: Lügen und antiisraelische Propaganda, verbreitet von IDF-Soldaten. Gestoppt werden konnte die Veranstaltung nicht mehr, stattdessen ist die Galerie seitdem dauerhaft geschlossen. Der Betreiber war Empfänger von städtischen Zuschüssen, ansonsten aber unabhängig.
Was die IDF-Soldaten im Regelfall zu berichten haben, klingt nach Methode. Nächtliche Razzien in palästinensischen Wohngebieten mit anschließender Zerstörung des Hausrats. Ausgangssperren in Serie, israelische Siedler dürfen im Schutz der Armee gegen Palästinenser vorgehen. Betselem dokumentiert nicht nur Vergehen aus den Reihen der israelischen Armee, sie schauen auch bei den Palästinensern genau hin. Doch was sie über die Verfehlungen der IDF dokumentieren, ist weitgehend ein glatter Widerspruch zum erklärten Selbstverständnis der ehrenwerten und moralisch gerechtfertigten israelischen Armee. Diese andere Sicht auf den Stolz der Nation versucht die Regierung Netanjahu, wenn möglich, zu unterbinden. Die aufsehenerregende Schließung der Kunstgalerie in Jerusalem hat längst System.
Der imaginäre Feind im Ausland
Schon im vergangenen Jahr hat die Knesset per Gesetz israelischen Organisationen, die ihren Etat vor allem durch nichtprivate Spenden aus dem Ausland bestreiten, eine penible Veröffentlichungspflicht auferlegt. Das betrifft auch Breaking the Silence, die Gelder aus Deutschland, Großbritannien und Belgien bekommt. Als im Februar Belgiens Regierungschef Charles Michel die gleiche Absicht hatte wie Sigmar Gabriel jetzt, nämlich Vertreter von Breakting the Silence und Betselem zu treffen, zeigte sich Netanjahu ungehalten und ließ den belgischen Botschafter einbestellen. Nicht genug, schickte er inzwischen auch der britischen Premierministerin Theresa May die Botschaft, sie möge bitte die Finanzierung der "linksradikalen" Organisation Breaking the Silence unterlassen.
Sigmar Gabriel, als SPD-Parteivorsitzender nicht immer ein Meister der diplomatischen Sprache, hatte bereits im Vorfeld Gerüchte um ein mögliches Platzen seines Treffens mit Netanjahu als bedauerlich bezeichnet. Gleichzeitig hatte er angemerkt, dass es in Deutschland undenkbar wäre, Netanjahu ein Gespräch zu verweigern, wenn er sich mit deutschen Regierungskritikern treffen würde.