Brexit: Ablauf, Folgen, Probleme
19. Januar 2017Das Ziel
Lange war von einem "weichen" Brexit die Rede: Davon, zwar die EU zu verlassen, aber möglichst viel von den bisherigen Vorteilen zu retten, vor allem von der Mitgliedschaft im Europäischen Binnenmarkt. Die EU hat das als "Rosinenpickerei" abgelehnt. Jetzt will Theresa May den klaren Bruch. Großbritannien soll aus dem Binnenmarkt aussteigen, die Regeln der Zollunion nicht mehr akzeptieren und sich auch nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterwerfen. Großbritannien will damit frei sein, Handelsverträge mit der ganzen Welt abzuschließen. Mit der EU strebt das Land ein möglichst umfassendes neues Freihandelsabkommen an.
Aber beide Seiten betreten Neuland. Noch nie gab es einen EU-Austritt. Und die EU hat auch noch nie mit einem Land ein Abkommen geschlossen, das einen dem Binnenmarkt vergleichbaren Zugang gewährt, ohne auch "Lasten" (oder was man dafür hält) aufzuerlegen. Mit der Schweiz zum Beispiel gibt es eine ähnliche Vereinbarung, aber die Schweiz muss dafür EU-Einwanderung hinnehmen.
Der Zeitplan
Ende März will Premierministerin May die Scheidung einreichen. Dann sind Austrittsverhandlungen vorgesehen, die auf zwei Jahre angelegt sind. Die EU will etwa einen Monat nach dem Austrittsantrag einen Sondergipfel einberufen und den EU-Unterhändlern ein Mandat erteilen. Dass am Ende der zwei Jahre tatsächlich ein Freihandelsabkommen steht, das beide Seiten akzeptieren, bezweifeln Experten, denn die Materie ist komplex. Manche rechnen mit bis zu zehn Jahren. Auch der britische Finanzminister Philipp Hammond ging - allerdings Ende vergangenen Jahres - von bis zu sechs Jahren aus.
Selbst wenn ein Abkommen zustande kommt, muss es von allen EU-Staaten ratifiziert werden. Allein das dürfte Monate dauern. Bundeskanzlerin Merkel befürchtet auch, dass die Austrittsverhandlungen für Jahre die gesamte Europapolitik überschatten werden. Beide Seiten sind also an einem reibungslosen und schnellen Ablauf interessiert.
Strafandrohung
Nach wie vor gibt es über das Verhalten der Briten viel Groll bei den Kontinentaleuropäern und vor allem in den europäischen Institutionen. Die Befürchtung: Wenn Großbritannien die empfundenen Nachteile der Mitgliedschaft (etwa die Personenfreizügigkeit) vermeiden, gleichzeitig aber die Vorteile der europäischen Zusammenarbeit (vor allem freien Handel) behalten kann, werde das einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Großbritannien soll demnach keinen zu guten Deal bekommen. May hat gewarnt, gar kein Abkommen sei besser als ein schlechtes - wenn die EU versuchen sollte, ihr Land zu bestrafen, werde London Gegenmaßnahmen ergreifen. Zum Beispiel könnte Großbritannien dann versuchen, der EU mit sehr niedrigen Steuern Konkurrenz zu machen.
Wirtschaftliche Folgen
Die Eine-Million-Pfund-Frage ist, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Die meisten Experten sind sich einig, dass die britische Wirtschaft aufgrund des Austritts aus dem Binnenmarkt leiden wird, die EU-Wirtschaft aber auch. Allerdings dürfte es die Kontinentaleuropäer weniger hart treffen: Rund 44 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU, umgekehrt exportierten alle anderen EU-Staaten nur sieben Prozent nach Großbritannien.
Es gibt allerdings auch Beobachter in Großbritannien, die die Vorteile einer von europäischer Gesetzgebung und Rechtsprechung "befreiten" Wirtschaft für größer halten, um dann stärker mit Drittstaaten handeln zu können, als die negativen Folgen des Binnenmarktaustritts. Die wirtschaftlichen Folgen für beide Seiten würden natürlich entscheidend davon abhängen, wie stark ein neues Abkommen den bestehenden Freihandelsregeln des Binnenmarktes ähneln würde.
Fahrzeuge und Finanzen
Brexit-Befürworter haben immer wieder darauf hingewiesen, die Deutschen würden doch nicht so blöd sein, sich ihre Autoexporte auf die Insel durch gegenseitige Zölle kaputtmachen zu lassen. In der Tat geht jeder fünfte deutsche Exportwagen nach Großbritannien. Auch für andere Branchen wie die Elektroindustrie oder der Maschinenbau ist das Vereinigte Königreich als Exportmarkt enorm wichtig. Hohe Zölle würden dieses Geschäft verderben.
Die Briten exportieren allerdings längst nicht so viele Waren, weil ihre verarbeitende Industrie stark geschrumpft ist. Ihr wichtigstes Ausfuhrgeschäft sind Finanzdienstleistungen. Sie sind deshalb sehr daran interessiert, sie weiter möglichst ungehindert auf dem Kontinent anbieten zu können. Nicht ohne Grund hat May diese beiden Wirtschaftszweige genannt, als sie vorschlug, man könne ja in bestimmten Bereichen die Binnenmarktregeln übernehmen. Selbst wenn die EU darauf nicht einginge, müsste London aber wohl nicht um seinen Status als einer der weltweit führenden Finanzplätze bangen: Nach britischen Branchenangaben sind in London mehr Menschen im Finanzdienstleistungsbereich beschäftigt als Frankfurt Einwohner hat.
Das britische Parlament
Premierministerin May wollte ursprünglich, dass allein die Regierung über den Austritt entscheidet. Doch möglicherweise muss das britische Parlament seine Zustimmung erteilen. Darüber wird in wenigen Tagen das höchste britische Gericht urteilen. Manche Brexit-Gegner hoffen noch immer, dass im Fall, dass das Parlament gefragt werden muss, eine Mehrheit der Abgeordneten "Nein" sagen wird und damit den ganzen EU-Ausstieg stoppen kann. Doch zu diesem späten Zeitpunkt, wo May sich auf einen harten Brexit festgelegt hat, scheint es höchst unwahrscheinlich, dass ihr das Parlament in den Rücken fallen wird. Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn ist kein glühender EU-Verehrer. May hat jedenfalls schon zugesagt, den fertig ausgehandelten Austrittsvertrag beiden Kammern des Parlaments zur Abstimmung vorzulegen.
Schottland und Nordirland
Die Schotten hatten mit großer Mehrheit für einen Verbleib in der EU gestimmt. Kein Wunder, dass sie sich durch das gesamtbritische Brexit-Votum düpiert fühlen. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon hat wiederholt ein neues Referendum über eine schottische Unabhängigkeit ins Spiel gebracht. Ein unabhängiges Schottland, so die Idee, würde dann EU-Mitglied werden - natürlich nur, wenn die übrigen EU-Mitglieder wirklich zustimmten.
Abgesehen davon bliebe Zweierlei unklar: Wie gestaltet man die Grenze zwischen England und Schottland, die dann eine EU-Außengrenze wäre? Und wird Schottland dann von EU-Ausländern überrollt, die eigentlich nach England wollen und dann auf Schottland ausweichen? Das Grenzproblem wird sich in jedem Fall in Irland stellen. Heute ist die Grenze zwischen Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört, und der Republik Irland sehr durchlässig, weil beide Staaten EU-Mitglieder sind. Tritt das Vereinigte Königreich aus, könnten dort wieder stärkere Grenzkontrollen notwendig sein.
Wenn nichts zustande kommt
Wenn am Ende einer zweijährigen Periode zwar der EU-Ausstieg steht, aber kein Freihandelsabkommen vereinbart wird, würden wohl zumindest die Minimalstandards der Welthandelsorganisation greifen. Die WTO setzt zwar auf möglichst viel Freihandel. Aber ihre Regeln lassen sehr wohl Zölle zu. Nach Berechnungen der Londoner Denkfabrik Civitas würden dann für britische Ausfuhren in die EU etwa 4,5 Prozent Zoll anfallen. Das mag wenig erscheinen, wäre aber ein erheblicher Wettbewerbsnachteil und für britische Exporteure bereits eine Katastrophe. "Meiner Meinung nach wäre die WTO-Option nicht die beste", hat kürzlich der britische Finanzminister Hammon mit typischem Understatement gesagt.