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Politik

Brexit: Die Schule der Geduld

Barbara Wesel
15. Mai 2020

Auch die dritte Verhandlungsrunde zum EU-Austritt Großbritanniens endet ohne Fortschritt - und schon bald läuft eine wichtige Frist ab. EU-Chefunterhändler Barnier warnt vor der Gefahr eines ungeordneten Brexit.

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EU-Chefunterhändler Michel Barnier nach den jüngsten Gesprächen
EU-Chefunterhändler Michel Barnier nach den jüngsten GesprächenBild: picture-alliance/dpa/AP/Reuters Pool/F. Lenoir

Es war eine virtuelle Marathonsitzung: 500 Handelsexperten und Juristen auf beiden Seiten nahmen per Telekonferenz vier Tage lang die elf Themenbereiche der Brexit-Verhandlungen durch, vom Güterverkehr über die Fischerei bis zur Polizei-Zusammenarbeit. Am Ende war die Mühe umsonst: "Das war eine Runde der unterschiedlichen Standpunkte, ohne Fortschritt", erklärte der erkennbar frustrierte EU-Chefunterhändler Michel Barnier.

"Großbritannien hat sich auf die 'Level Playing Field'-Verhandlungen nicht wirklich eingelassen", klagt der französische Diplomat. Der Begriff bezeichnet die Forderung der EU, Großbritannien müsse im Gegenzug für den Zugang zum riesigen Binnenmarkt gewisse Regeln einhalten, etwa bei Verbraucherschutz, Umweltauflagen oder Arbeitsbedingungen. Brüssel will keinen Dumping-Produzenten auf seiner Türschwelle, der europäische Standards unterläuft und unterbietet.

Hauptkampfplatz fairer Wettbewerb

An diesem Punkt gibt es absolut keine Bewegung - die britische Seite argumentiert, dass man sich als souveräner Staat keine Regeln von der EU vorschreiben lasse. Die EU antwortet, dass sie nur um diesen Preis den Briten freien Zugang - ohne Zölle und Quoten - zu ihrem Markt gewährt. Der Streit läuft im Kreis. Keine Seite will Abstriche machen, es gibt noch nicht einmal einen Ansatz für Fortschritt in dieser Frage. 

Die Briten zeigten auch "keinen Ehrgeiz", die Frage des Rechtsrahmens für das Abkommen zu klären, klagt Barnier. Dies gelte auch für Einzelthemen, zum Beispiel Geldwäsche, die Rolle der Parlamente oder der Zivilgesellschaft. Die Polizeizusammenarbeit scheitere wiederum daran, dass die Briten die Menschenrechtskonvention ablehnten, den Standard beim Datenschutz senken wollten und die Gegenseitigkeit nicht mehr gewährleistet werde.

Der britische Unterhändler David Frost hält die EU-Position für "ideologisch"
Der britische Unterhändler David Frost hält die EU-Position für "ideologisch"Bild: picture-alliance/dpa/ZUMAPRESS/G. C. Wright

Die Europäer glauben, dass die sich die Briten, wie schon bei den Scheidungsverhandlungen, die Rosinen herauspicken wollen. Man könne sich nicht die attraktivsten Teile des Binnenmarkts aussuchen, ohne die verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen - den Satz kennt man von den Austrittsverhandlungen. "Es scheint einen wirklichen Mangel an Verständnis für die mechanischen, realen Konsequenzen des Brexit zu geben", sagt Michel Barnier.

Der britische Verhandlungsführer David Frost und seine Experten halten zudem ihre Vorlagen für die Gespräche mit Brüssel bislang geheim. In Brüssel wird vermutet, dass damit Debatten über Streitfragen in Großritannien verhindert werden sollen. Die EU plädiert dagegen für volle demokratische Transparenz bei den Verhandlungen.

Der ungeordnete Brexit rückt näher – wieder einmal

Michel Barnier nennt die Gesprächsrunde einfach "enttäuschend". Ausnahmsweise hat er sein Lieblingsbild von der tickenden Uhr weggelassen. Er glaubt wohl, dass sowieso nicht mehr genug Zeit ist, um den Umriss eines Abkommens auszuhandeln. Anfang Juni findet die vierte Gesprächsrunde statt, danach gibt es ein Treffen auf Regierungsebene um festzustellen, ob hinreichender Fortschritt für weitere Verhandlungen vorliegt. Ist das nicht der Fall, müsste bis Ende Juni der Antrag auf Verlängerung der Übergangszeit um ein bis zwei Jahre gestellt werden.

Vor dem Europaparlament in Straßburg weht kein Union Jack mehr
Vor dem Europaparlament in Straßburg weht kein Union Jack mehrBild: picture-alliance/dpa/P. von Ditfurth

Trotz der ökonomischen Talfahrt, die auch Großbritannien durch die Corona-Krise erleidet, lehnt London die Verlängerungsoption bisher nachdrücklich ab. Zuletzt wiederholte Staatsminister Michael Gove diesen eisernen Schwur. Obwohl sogar manche Brexit-Befürworter inzwischen auf eine Verlängerung dringen, stellt sich die Regierung taub. Es wird vermutet, dass London die EU veranlassen will, von sich aus mehr Zeit zu beantragen. Dann könnte Boris Johnson die Schuld auf Brüssel abwälzen. EU-Diplomaten aber schließen dies aus - warum sollte man den Briten den politischen Gefallen tun?

Aus alledem folgt, dass die Europäer jetzt ihre Vorbereitungen für einen ungeordneten Brexit verstärken müssen. "Großbritannien muss realistischer werden, wenn sie noch ein Abkommen wollen", plädiert Barnier. Die nächste Runde werde die Richtung für die weiteren Gespräche festlegen. "Wir werden kein Abkommen um jeden Preis abschließen", sagt der Franzose, denn man wolle den europäischen Binnenmarkt schützen. Beide Seiten müssten jetzt ihre Unternehmen und Verbraucher auf drohende Grenz- und Warenkontrollen ab Anfang 2021 hinweisen.

Ist alles verloren?

Es entsteht der Eindruck, dass der Verhandlungspoker noch voll im Gange ist. Als einzigen Lichtblick nennt Michel Barnier die Fischerei. Da gebe es Ansätze, bei denen man nicht mehr über Maximalpositionen, sondern über Zonen und Arten sprechen und vielleicht vorankommen könne. Positiv vermerkt wird in Brüssel auch, dass die britische Regierung inzwischen anerkennt, dass es Kontrollen an der Grenze zwischen dem britischen Festland und Nordirland geben werde. Genau dies hatte Johnson noch zu Jahresbeginn vollmundig geleugnet. Der EU-Diplomat erinnert allerdings daran, dass das Nordirland-Protokoll als Teil des Austrittsabkommens und internationaler Vertrag fristgerecht bis zum 1. Januar 2021 voll umgesetzt werden müsse.

Fischmarkt im britischen Peterhead
Fischmarkt im britischen PeterheadBild: picture-alliance/dpa/C. Meyer

"Ich bin ruhig, entschlossen aber nicht optimistisch", beschreibt Michel Barnier seine Gemütslage nach Ende der Gespräche und nennt den Brexit "eine Schule der Geduld". Eine Runde hat er noch vor sich, dann kommt es zum politischen Schwur. Das Verlängerungsdatum 30. Juni ist im Austrittsvertrag festgeschrieben, es lässt sich nicht ohne weiteres etwa auf den Herbst verschieben.

Ein Blick in die dürre Abschlusserklärung von David Frost verbessert nicht gerade die Stimmung: "Ich bedauere, dass wir bei den ausstehenden Themen sehr wenig Fortschritt haben". Ein Standard-Freihandelsabkommen mit Seitenverträgen zu Polizeikooperation oder Flugverkehr könne ohne größere Probleme in der vorhandenen Zeit vereinbart werden, erklärt der britische Unterhändler. Die Betonung liegt hier auf Standard: Die Briten wollen ein "Abkommen von der Stange" - die EU betont, dass so etwas für die besondere Situation zwischen beiden Seiten nicht passen würde. "Die EU muss wirklich ihre Haltung vor der nächsten Runde am 1. Juni ändern", fordert der Brite und nennt ihren Ansatz "ideologisch".

Ein politischer Quantensprung, um den Grundsatzstreit zu überwinden und die Tür für die Lösung der vielen Detailfragen zu öffnen, ist nicht vor Ende Juni beim Treffen der Regierungschefs zu erwarten. Boris Johnson befasst sich derzeit mit der Corona-Krise und überlässt den Brexit seinen Verhandlungsführern. In gut vier Wochen muss er eine Entscheidung treffen und die Wetten sind offen, ob er dann seine Meinung ändern wird.

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