Brexit: Boris Johnson mag es hart
9. August 2019"Ich bin den ganzen Sommer über zu erreichen", schrieb Michel Barnier, der Brexit-Unterhändler der EU, in einer E-Mail an alle Regierungen in der EU und zwar am Tag, nach dem der neue britische Premier Boris Johnson Ende Juli sein Amt angetreten hatte. Barnier machte der neuen Regierung in London ein Gesprächsangebot.
Getroffen hat der Unterhändler aber noch niemanden aus dem neuen Stab von Downing Street Nummer 10. Neue Verhandlungen über das fast 600 Seiten starke Abkommen zum Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der EU schloss Michel Barnier von vorneherein aus. "Wir müssen jetzt ruhig und solidarisch bleiben", so Barnier. Die polternden Forderungen von Boris Johnson, der irische "Backstop" müsse weg, wies der französische EU-Diplomat indigniert als "unakzeptabel" zurück. Mit dem "Backstop" soll verhindert werden, dass zwischen der Republik Irland und Nordirland eine harte EU-Außengrenze mit Zollkontrollen entsteht, und zwar so lange, bis beide Seiten eine bessere Lösung gefunden haben.
Einfache Botschaft: Raus!
Der einzige Besucher aus London, der sich seit dem Regierungswechsel im Juli nach Brüssel verirrt hat, war der britische Beamte David Frost. Er ist der persönliche Brexit-Beauftragte des Premierministers. Der EU-Kommission und den versammelten EU-Diplomaten erklärte Frost, seine Botschaft sei vor allem, dass das Vereinigte Königreich auf jeden Fall am 31. Oktober die Europäische Union verlassen werde - mit oder ohne Austrittsabkommen.
Als Voraussetzung für neue Gespräche mit der EU nannte Frost die Beseitigung des "undemokratischen Backstops". Diese Forderung wiesen sowohl die EU als auch der irische Premier Leo Varadkar vehement zurück. EU-Diplomaten, die mit David Frost gesprochen haben, sagten, der Sendbote aus London habe keinerlei Alternative zum "Backstop" konkret nennen können. Auch stichhaltige Punkte, über die Premier Johnson in einem neuen Anlauf verhandeln wolle, wurden nicht genannt.
Johnson selbst hatte in Interviews vor seiner Ernennung zum Regierungschef gesagt, er werde die guten Teile des Abkommens bewahren und den Rest verändern. "Wir können zum Mond fliegen, also können wir auch diese Grenze zu Irland irgendwie organisieren", war noch eine der konkreteren Johnson-Äußerungen.
Harter Brexit wahrscheinlich
Aus Brüsseler Sicht steuert Boris Johnson damit auf einen Brexit ohne Abkommen, ohne Übergangsfristen, ohne Zahlung der offenen Rechnungen an die EU, ohne Vorstellungen für die künftigen Beziehungen zu. Zwar erklärt der Premier, der "harte" Brexit sei nicht sein Ziel, aber wenn es am 31. Oktober nicht anders gehe, dann scheide Großbritannien eben auch ohne Abkommen aus.
Die Minister im britischen Kabinett üben sich eifrig in Schuldzuweisungen. Michel Gove, Minister für die Vorbereitung des Brexits, sagte etwa der BBC: "Wir brauchen einen neuen Ansatz. Wir sind bereit, uns mit der EU auseinanderzusetzen. Aber im Moment sieht es so aus als sei die EU nicht interessiert. Sie sagt einfach Nein. Das ist falsch und traurig und nicht in Europas Interesse." Michel Barnier, der EU-Unterhändler, beteuert dagegen, dass die EU auch keinen harten Brexit wolle. Das Abkommen mit der EU war allerdings drei Mal vom britischen Parlament niedergestimmt worden.
Misstrauensvotum im Unterhaus?
Da die Regierung von Boris Johnson trotz vieler Warnungen der Wirtschaftsverbände und der "Bank of England" auf einen No-Deal zusteuert, wollen Gegner des harten Brexits jetzt das tief zerstrittene Parlament nutzen, um Johnson doch noch zu stoppen. Die Koalition aus Konservativen und der nordirischen DUP besitzt dort nur noch eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme.
In der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause Anfang September könnte die Labour-Opposition ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson beantragen. Verlöre er das Vertrauen, hätte die Opposition 14 Tage Zeit eine neue Regierungsmehrheit zu organisieren. Gelänge dies nicht, müsste der Premier einen Termin für Neuwahlen ansetzen, die frühestens nach 25 Tagen stattfinden dürften.
Ob Boris Johnson gezwungen werden kann, in dieser Phase zurückzutreten, ist umstritten. Das Wahlgesetz aus dem Jahr 2011 ist hier unscharf formuliert und auch noch nie angewendet worden. Der Premier könnte die Neuwahlen auch in den November legen. Der Brexit am 31. Oktober würde trotzdem vollzogen.
Der einzige Beschluss, auf den sich das Unterhaus bisher einigen konnte im Frühjahr, war die Ansage, dass es keinen Austritt ohne Abkommen geben sollte. Andererseits gilt das Gesetz, das den Brexit zum 31. Oktober automatisch vorsieht - mit oder ohne Abkommen.
Das Parlament hätte die Möglichkeit, diese Regelung zu ändern - aber nur wenn es zuvor die Regierung zwingt, das Gesetz auf die Tagesordnung zu setzen. "Das Parlament könnte den Premier auch gesetzlich anweisen, eine Fristverlängerung bei der EU zu beantragen", sagt Peter Sloman, Politikwissenschaftler an der Universität Cambridge. "Nur ob sich Johnson daran halten würde, ist unklar."
Brexit als Glaubenssatz
Premier Boris Johnson ist also in einer relativ bequemen Position: Tut er nichts, findet der Brexit - auch ohne EU-Abkommen - am Halloween-Tag statt. Selbst wenn es das wollte, dürfte das Parlament große Mühe haben, ihn noch zu stoppen. Theoretisch könnte die Queen ihren Premierminister selbst entlassen. Doch das würde mit der Tradition brechen, dass die Monarchin sich nicht in Tagespolitik einmischt, und gilt deshalb als höchst unwahrscheinlich.
Darauf zu spekulieren, dass die Europäische Union kurz vor Ultimo doch noch einknickt, ist riskant. "Auf dieses Spiel sind wir vorbereitet", heißt es dazu von französischen Diplomaten im Elysée-Palast in Paris. "Wir werden die Nerven nicht zuerst verlieren."
Viele konservative Parteimitglieder und hartgesottene Brexit-Anhänger wollen jetzt endlich raus aus der EU. Koste es, was es wolle. Wirtschaftliche oder rationale Argumente spielen da kaum noch eine Rolle, glaubt der Buchautor J.N. Paquet. "Brexit ist eine Religion" heißt sein jüngstes Buch, das Ende August in Großbritannien erscheinen wird. "Ich glaube an den Brexit", hat nicht nur Boris Johnson gesagt; auch seine Vorgängerin Theresa May hat dieses Bekenntnis inbrünstig und oft abgegeben.