Wie viel Heuchelei geht auf eine Kuhhaut?
20. November 2017Es war der erste Fall in dem das Fell des Bären nach dem Brexit verteilt wurde. Und der Wettbewerb um den Umzug der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und der Europäischen Bankenaufsicht (EBA) aus London war scharf. Alle machten mit, von Athen bis Budapest, von Mailand bis Paris. Und um eine faire Abstimmung zu garantieren, hatte man sie extrem kompliziert gemacht. Spötter nannten das Verfahren "Eurovision Song Contest". Am Ende machten ähnlich wie bei dieser Show unterirdischer Popmusik Länder-Absprachen das Rennen und Deutschland ging leer aus.
Heuchelei
Die glücklichen Gewinner sind Amsterdam für die EMA und Paris für die EBA, herzlichen Glückwunsch! Die Botschaft an London aber ist: Tut uns leid, selbst wenn die Briten zum Brexit noch ihre Meinung ändern sollten, weg ist weg. Die Umzugswagen werden rollen.
David Davis war nach Berlin eingeladen, um über den Brexit zu reden. Und man muss ihn für seine Frechheit bewundern: Er ermahnte seine Zuhörer, die deutsche Regierung und überhaupt Europa, dass sie beim Brexit nicht "Politik vor Wohlstand" stellen sollten. UND WIE WÜRDE DER MINISTER DEN BREXIT NENNEN? Eine Naturkatastrophe? Einen Akt Gottes? Hier auf dem Kontinent betrachten wir ihn als Politik.
"Rebellen" am Pranger
Die Zeitung "The Telegraph" hat sich der ehrenwerten Aufgabe verschrieben, die Tory-Abgeordneten an den Pranger zu stellen, die gegen die Parteilinie stehen. Sie sind mit dem Zusatz im Brexit-Gesetz nicht einverstanden, der Datum und Zeit des britischen EU-Ausstiegs festschreiben und ihnen Gesetzeskraft verleihen sollen. Was passiert, wenn wir eine paar Wochen oder Tage länger für eine Vereinbarung mit der EU brauchen, so fragen sie.
Oder wie Ken Clarke, führender Europa-Freund bei den Tories, erklärte: "Ich bitte die Regierung, alberne Änderungen noch einmal zu überdenken, für die es einen guten Artikel im "Telegraph" gibt, die aber eher schaden als nützen."
Nach ihrem Erscheinen auf der Titelseite der Zeitung erhielten mehrere der sogenannten "Rebellen" ernsthafte Drohungen. Anny Soubry klagte, die Veröffentlichung sei "ein krasser Fall von Bullying". Ihre Mitarbeiter reichten mehrere bedrohliche Tweets an die Polizei weiter. War das nicht gerade der Sinn, wenn jemand an den Pranger gestellt wurde: Leute durften Gegenstände auf sie werfen.
Liebesgrüße aus Russland
Im russischen Außenministerium hatten sie offenbar Spaß mit Theresa Mays Rede beim Dinner des City Bürgermeisters in London. "Wir wissen, was ihr da macht", hatte sie bei dem zeremoniellen Ereignis gesagt, dabei nach Osten blickend, "und ihr werdet keinen Erfolg haben". Die Premierministerin bezog sich auf eine Flut von automatisierten Tweets während des Brexit-Referendums, die von russischen Bots oder Cyborgs stammten. Diese Botschaften feierten die Freuden des Brexit und verhöhnten die EU. Und Moskau reagierte prompt per Twitter, und zeigte dass man auch weiß, was Theresa May so tut und dass man ihren Terminplan kennt.
Russland solle die "Bindung des Westens an die Bündnisse, die uns vereinen, nicht unterschätzen", erklärte die Premierministerin weiter. Autsch, wer hat ihr denn diese Rede geschrieben? Unterstützt sie nicht selbst den Brexit und reißt damit aktiv eine der wichtigsten Bindungen Großbritanniens auseinander? Mit der Logik ist es manchmal schwierig in der Politik.
Noch mehr Heuchelei
John Redwood ist in Westminster ein Hinterbänkler, aber einer der als Brexiter zu relativem Ruhm kam. Redwood inhaliert Brexit und er will die harten Sachen, einen No-Deal, ungebremsten Knall auf Fall-Sturz-Brexit. Sogar Minister David Davis betrachtet die No-Deal Variante nur als Verhandlungsposition. Redwood aber kämpft hier um die reine Lehre, die Mutter aller Abstürze über die Brexit-Klippe. Nur dort liegt für den britischen Patrioten das Glück.
Allerdings hat der Abgeordnete einen Nebenverdienst, mit dem er 180.000 Pfund als strategischer Berater für die Investmentfirma Charles Stanley verdient. Und in dieser Eigenschaft schrieb er in der "Financial Times" einen Artikel, in dem er Investoren riet, "sich außerhalb umzuschauen" und ihr Geld wegen drohender Unsicherheiten nicht in Großbritannien anzulegen.
Das erregte ganz gewaltig die Wut von "Forbes"-Kolumnistin Frances Coppola: "Für mich riecht das nach Desaster-Kapitalismus. Du führst einen Absturz herbei und wahrst dabei deine Interessen, dann sahnst du ab, wenn der Krach da ist".
Grimsby
Grimbsy ist eine schrottige kleine Hafenstadt im Nordosten Großbritanniens. Das Nest ist kein Touristenziel und seit Jahrzehnten ein Hungerleider. Die einzige verbliebene Industrie ist die Fischverarbeitung und das letzte große Unternehmen der Branche beschäftigt 5000 Leute. Aber die Bürger von Grimsby hatten bei dem Referendum das Gefühl, dass die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ihnen keinen Nutzen bringt und stimmten zu 70 Prozent für den Brexit.
In jüngster Zeit allerdings führten Erklärungen über das künftige Verhältnis mit Europa zu einiger Unruhe. Und Vertreter aus Grimsby begannen in Westminster bei den Abgeordneten dafür zu werben, dass Grimsby nach dem Brexit den Status eines Freihafens bekommen sollte. Denn plötzlich begann man sich vor neuen Zöllen, Grenzkontrollen und bürokratischen Verzögerungen zu fürchten. Schließlich importiert Grimbsy 90 Prozent des Fisches, der verarbeitet wird, aus Europa. Hinterher ist man eben immer schlauer.